Ein weites Feld
bröckelnde Leipzig. die Heldenstadt! Dann wieder Berlin. Vom Volk enttäuscht, tritt Honni zurück. Sein Nachfolger bleckt lachend die Zähne. Immer mehr Rücktritte und Herzattacken. Sodann in Bilderfolge mit Sprechblasen: zerknirschte Genossen im Gespräch mit bärtigen Menschen vom Neuen Forum. Weitere Rücktritte, Forderungen. Überall Runde Tische! Und überall Pastoren; mein Lorenzen hätte dabeisein können. Natürlich darf der 4. November nicht fehlen, der Tag der tausend Transparente und viel zu vielen Redner, die in immer größeren Sprechblasen ein klein wenig Hoffnung machen. Heym klagt bitter. Die Wolf sucht Nähe zum Volk. Müller warnt: ›Machen wir uns nichts vor …‹ Die Schauspielerin Spira sagt ein Gedicht auf. Und dann, nachdem ein jüngerer Autor namens Hein jegliche Euphorie kleingeredet hat, werde ich aufs Podium gerufen: ›Fonty soll reden! Fonty soll reden!‹ Ja, ich sprach zu den Fünfhunderttausend auf dem Alex. ›Es sind die Imponderabilien, die die Welt regieren!‹ rief ich durchs Mikrophon. Und dann berief ich die achtundvierziger Revolution: ›Viel Geschrei und wenig Wolle!‹ Ob jemand meine Warnrufe verstanden hat? Und schon kam der uns Deutschen so eingefleischte 9. November, aber diesmal mit Anlaß für fröhliche Folgen. Nach all den Schrecknissen dieses Datums darf endlich Freude den Ton angeben: Die Mauer sperrangelweit offen, der Schutzwall fällt, Mauerspechte sind tätig, Bananen beliebt … Jedenfalls ergäbe sich eine Bildfolge, vergleichbar den Neuruppiner Steindrucken, die den Sieg von Sedan, die Kaiserproklamation im Schloß von Versailles, sogar die Tage der Pariser Kommune, dann aber den Einzug der siegreichen Regimenter durch das Brandenburger Tor bebildert haben; wie ja auch mir, der ich voll Hoffnung war, der gesamte Waffengang zweitausend Seiten lang Stoff gewesen ist. Aber niemand hat mein Kriegsbuch lesen wollen, alle griffen nach kolorierten Bilderbögen. Ja, Kühn hieß der Mann, der das große Gemetzel so farbgesättigt unters Volk gebracht hat. Ein solcher Kühn fehlt uns heute. Denn soviel sage ich freiweg: Zwar holzen wir ganze Wälder ab, damit sie zu Zeitungslöschpapier werden, zwar plärrt das Radio rund um die Uhr, und Fernsehen so viel. daß man erblinden möchte, doch was fehlt, Hoftaller, woran wir Mangel leiden, wie vormals den Hauptmannschen Weberkindern ein Stickel Brot mangelte, das ist ein Gustav Kühn aus Neuruppin!« Fast wäre er aufgesprungen. Er versuchte, aus dem durchgesessenen Polster zu kommen, sank aber wieder in seine Sofaecke, tiefer als zuvor. Bevor ihn weitere Bilder anflogen, füllte Hoftaller, der bei kleinem Lächeln zugehört hatte, abermals den Pappbecher mit übersüßem Wein; und dann holte Fonty weit aus: Die Lehrjahre als »Giftmischer« in diversen Apotheken verzwirnten sich mit den Front- und Etappenberichten des Luftwaffengefreiten Wuttke. Nachdem er die Lehr- und Wanderjahre zweigleisig abgefahren hatte, war er plötzlich bei Orden- und Ehrenzeichen: »Anno siebenundsechzig fand man mich mit dem Kronenorden vierter Klasse ab, erst anno achtundachtzig war es endlich das Ritterkreuz des Hohenzollernhausordens …« Kaum aber hatte er den eher spärlichen Ordensschmuck als »bloßes Blech« abgetan, wurde seine während des Zweiten Weltkrieges ordensfrei gebliebene Brust mit Ehrennadeln und Verdienstschnallen geschmückt, die ihm während seiner Tätigkeit im Kulturbund verliehen worden waren: »Alles nur drittrangig! Aber immerhin: zwei- oder dreimal ›verdienter Aktivist‹. Bredel persönlich hat mich für eine Medaille vorgeschlagen. Wiederholt haben die Kollegen Strittmatter, Fühmann meine Verdienste um das kulturelle Erbe herausgestrichen. Dann aber starb mein damaliger Gönner, der Präsident des Kulturbunds, Johannes R. Becher … Hätte, wenn mir danach gewesen wäre, als Kreissekretär Karriere machen können, in Potsdam oder Oranienburg … Oder stellen Sie sich vor, Tallhover, es hätte anno achtzehnneunundfünfzig geklappt. Meinem Freund Heyse wäre es gelungen, mich, als es nach der halbwegs passablen Londoner Zeit in Berlin ganz duster aussah und Emilie nur noch das Jammern hatte, an den bayerischen Hof zu vermitteln. Ich als königlicher Privatbibliothekar. Ich fest besoldet! Alles wäre anders verlaufen. Keine Wanderungen durch die Mark und keine Kriegsbücher, aber die Voralpen, der Starnberger See, Berchtesgaden, Oberammergau, des König Ludwigs Schlösser und viele Romane, in denen Enzian
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