Ein weites Feld
Wortknapserei parodieren soll: »Habe strammen Briefschreibetag hinter mir.« Nein, sie war keine Corinna, doch ließen sich gewisse Ähnlichkeiten familiärer Art nicht übersehen. Martha Wuttkes plötzliche Verstimmungen führten oft zu heftigen, ja fiebrigen Nervenkrisen, die nicht nur wochenlang ihre pädagogische Tätigkeit unterbrachen, sondern auch einen Vergleich mit ihres Vaters nachgelebten »Nervenpleiten« und den Verbiesterungen der historischen Martha erlauben. Sie ähnelte jener in vielen Briefen verewigten Mete, die uns zudem von archivierten Photos her bekannt ist, auf denen sie schon früh matronenhaft wirkt und den Betrachter, selbst bei versuchtem Lächeln, düster anblickt. Des Unsterblichen leises Mitgefühl »Mete hat beinahe einen heilen Zug, den das Leben nur abgedämpft hat« deutete an, was er an anderer Briefstelle bestätigt: »Du unterzeichnest Dich ›Pechmatz‹, und es ist auch sowas …« Doch bei aller Ähnlichkeit war Martha Wuttke dennoch eine eigenständige Person. Über verschränkten Armen und bei schräger, von Mißtrauen bestimmter Kopfhaltung gab sie uns Antwort, manchmal gewollt schroff, dann wieder flapsig. Nicht daß sie übermäßig berlinerte, doch pflegte sie den ortsüblichen »Sprechanismus« dergestalt nachlässig, daß niemand hinter ihrer Wortwahl eine seit Jahren tätige Lehrerin vermutet hätte. Schließlich unterrichtete sie die Fächer Mathematik und Erdkunde und muß als junges Mädchen sogar gut auf dem Klavier gewesen sein, jedenfalls gab sie uns beiläufig zu verstehen, daß sie »ein paar Sachen von Chopin ganz gut draufgehabt« habe: »Mama wollte natürlich, daß ich weitermach, aber ich wollt nicht mehr. Macht mich krank, Musik. Geht mir ähnlich wie Vater …« Und die Gretchenfrage? Martha Wuttke hat zu ihrer Person mehr gesagt, als zu erwarten gewesen wäre, zum Beispiel, daß sie noch vor der Wende – und zwar »ab März neunundachtzig genau« – raus sei aus der Partei, »endlich«, wie sie betonte, doch komme die Nachfolgeorganisation für sie nicht in Frage: »Wem der Glaube mal futsch ist, hilft nur noch ein radikaler Schnitt. Aber geglaubt hab ich, feste sogar und viel zu lang, na, an die gemeinsame Sache, Sozialismus, Völkerfreundschaft und so. Hatte ein Ziel vor den Augen … War stramm auf Linie … Wie es hieß, unbeirrbar, bis es nicht mehr ging. Auf einmal stimmte rein gar nix mehr. Aus und vorbei. Da bleibt ne ziemliche Leere übrig. Hab lang gesucht und dann ganz woanders angeklopft. Sie ahnen nicht, wo, und lachen womöglich. Na, bei Sankt Hedwig. Denn im Prinzip kommt der Mensch ohne Glauben nicht aus …« Nur andeutungsweise sprach sie von ihrem erwachten Interesse an religiösen Fragen: »Man kann nicht alles rein materialistisch auf Reihe bringen« und machte sich sogleich Sorgen über ihre Zukunft als Lehrerin: »Weil ich so lang in der Partei war. Außerdem soll ab jetzt nur noch kapitalistisch gerechnet werden, kann ich aber nicht. Und wie das bei Erdkunde laufen soll, wenn es um Ölvorkommen und Dritte Welt geht, ist mir ziemlich schleierhaft. Null Perspektive, außer Hausfrau. Man wird ja sehen, was nach der Hochzeit kommt. Das Baugeschäft von meinem Verlobten ist zwar in Münster, aber nun will Heinz-Martin bei uns investieren, was im Prinzip ja richtig ist. Nee, nicht in Berlin, mehr in Schwerin und Umgebung, wo er schon ne Wohnung für uns hat seit neulich …«
Hörte man zu, wenn Martha Wuttke aufs Praktische kam, sprach eher eine Mathilde Möhring aus ihr, selbst wenn es am gemmenhaften Profil mangelte. Und aschblond war sie auch nicht, eher kastanienbraun gewellt wie ihre Mutter vorm Ergrauen. Es kann aber sein, daß sie des Vaters Haar hatte, wenngleich sich uns Fonty weißhaarig eingeprägt hat. Auf dessen jüngste Eskapaden kam sie immer wieder zu sprechen: »Man muß sich vorstellen. Hat mir einfach einen druckfrischen Fünfhunderter in den Brief gesteckt: als Hochzeitsgeschenk! Und wie er mit Koffer und Tüte zurückkam, war er natürlich die Unschuld in Person. Hat irgendwas von ›kleinem Ausflug‹ gefaselt. ›Ist leider ins Wasser gefallen.‹ Und zwar, weil sich, hat er gesagt, eine alte Frau zu ihm ins Abteil gesetzt hat, als der Zug Bahnhof Zoo hielt. Die soll ein schwarzes Huhn auf dem Schoß gehalten haben, genau, ein lebendiges. Na, kapiert? Richtig: die arme Effi, Kessin, das spukende Chinesenhaus, und genau die olle Frau Kruse ist es gewesen, in ihrer überheizten Stube, die immer son schwarzes
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