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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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–, nein, sie stürzt, weil ihre Uhr abgelaufen ist …« Gegen Schluß des aus dem Stegreif zitierten Briefes rückte er, nach der Ablösung Englands, eine andere Weltmacht in den geschichtlichen Vordergrund: »… die ›andere‹ heißt zunächst Rußland. Aber auch Rußland wird nur eine Episode sein …«, um sogleich und nach geflissentlicher Aussparung Amerikas auf die Gegenwart und deren Abstürze zu kommen: »Was wir hier als Fall der Mauer und Kollaps der Sowjetunion erleben, bedeutet nicht Ende, nein, ein sich auf sich selbst besinnendes, nationales, religiöses und dem uralt Überlieferten angepaßtes Leben wird schließlich triumphieren. Schrecklich und unerlaubt dumm, ich weiß. Aber dieser hier nur angedeutete Werdeprozeß vollzieht sich, wohin man blickt, in der ganzen Welt. Dachte anfangs, mein verehrter Herr Morris, es ist ein Segen für die Völker, unter ihnen kleine und kleinste, befürchte nun aber, mit Blick auf Balkan und Kaukasus, das Allerschlimmste. Sollte ich demnächst, was weiterhin zu hoffen mir zusteht, an Ihrem Londoner Kaminfeuer sitzen dürfen, will ich mir gerne alle Trübsal, die mich mächtig erfaßt hat, wegblasen lassen, und zwar mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes; ein kolossaler Vorzug, den England immer noch auf seiner Seite weiß …« Als beide den Paternoster im ersten Stockwerk verließen, sagte Hoftaller: »Ist ja gut, Fonty. Ihr Freund Morris kann warten. Noch hält ja die Welt einigermaßen. Sie aber sollten sich nicht allzu sehr erhitzen. Wie wär’s mit Feierabend? Heute ein bißchen früher. Sehen spitz aus, mit Schweiß auf der Stirn. Ihr dünnes Nervenkostüm. Damit ist nicht zu spaßen. Aufpassen sollten wir, höllisch aufpassen! Habe übrigens ne ähnliche Meinung, was den neuesten Groß-, Klein- und Kleinstnationalismus betrifft. Doch wollen wir dabei Amerika nicht vergessen. Und eines Tages wird China … Aber nun ist genug. Mensch, Wuttke! Sie zittern ja richtig. Wollen uns doch nicht krank werden?«
    Diese Sorge teilte Fontys Tochter mit Hoftaller, der seinen von Schüttelfrost gepackten Schützling in der Dreieinhalbzimmerwohnung ablieferte: »Die Aufregungen der letzten Tage haben ihn mitgenommen. Schätze, es sind mal wieder die Nerven.« Martha Wuttke bat den Tagundnachtschatten ihres Vaters nicht in die gute Stube. Wenngleich sie ihn, nach Fontys Worten, als »altvertrauten Kumpan« zu akzeptieren und seit Jugendjahren als »Stoppelkopp« zu fürchten gelernt hatte, fertigte sie Hoftaller in der Küche ab und hielt dabei die Tür zum Hausflur offen: »Glaub, daß ihm das Raufundrunter und die ewige Aktenschlepperei nicht bekommt. Man sollte ihn endlich in Ruhe lassen. In seinem Alter hat sich Vater, weiß Gott, ein bißchen Ruhe verdient. Das müßte Ihnen natürlich längst bewußt sein. Kennen ihn doch angeblich aus Kriegszeiten schon. Genau! Alte Kameraden! Von mir aus, bitte. Aber dann sollten Sie für ihn was ausfindig machen, das weniger anstrengend ist. Muß es doch geben in so nein großen Haus. Und zwar wie gehabt, halbtags. Denn im Prinzip haben wir nix dagegen, wenn Vater ner Tätigkeit nachgeht. Darf aber nicht in Arbeit ausarten. Sieht man ja, wohin das führt. Schlottert richtig. Das kommt, weil er sich leicht übernimmt. ›Vater kennt seine Grenzen nicht!‹ sagt Mama. Da ist was dran. Müßten Sie eigentlich wissen, nach so langer Bekanntschaft. Aber ist nix mit Rücksichtnahme. Ausgenutzt wird er, mißbraucht, zum bloßen Objekt gemacht. Sieht Ja wie Spucke aus. Werden wieder die Nerven sein. Kenn ich von mir, wie das anfängt, genau. Müssen wieder mal Doktor Zöberlein rufen. Er wird uns noch krank werden!« Hoftaller bestätigte Martha Wuttkes Befürchtungen, ohne sich zu verteidigen. Er ging, als ihm kein Stuhl angeboten wurde. Fonty hatte sich dem Gejammer um seinen Zustand durch Weghören entzogen. Er saß am Tisch, zitterte in Schüben und bewegte einige Brotkrümel auf dem Wachstuch. Mit gelockerter Krawatte saß er und blickte wäßrig.
    Kaum war Hoftaller gegangen, öffnete Emmi Wuttke die Tür der guten Stube einen Spaltbreit zur Küche: »Is er weg endlich! Richtig durchlüften muß man hinterher, wenn dieses Stinktier sich breitgemacht hat. Aber läßt nich locker. Muß meinem Wuttke immerzu auf die Hacken treten. Und ich Dummerchen hab geglaubt, damit isses nu vorbei.« Wir vom Archiv wären gern behilflich gewesen, und sei es mit einschlägigen Zitaten, aber die Nachricht von Fontys Nervenkrise erreichte uns mit

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