Ein weites Feld
Huhn auffem Schoß hatte, daß einem gruseln mußte. Und deshalb, hat Vater gesagt, ist er raus aus dem Zug, aus reinem Aberglauben, weil das Unglück gebracht hätte. Aber das stimmt natürlich nicht, auch wenn er sich das Huhn noch so lebendig hinphantasiert hat. Im letzten Moment rausgeholt hat ihn wer anders. Sie wissen schon, wer. ›Muß man noch dankbar sein, diesem Kerl!‹ hat Mama gesagt. Und Vater? Der hat gelacht, als ich ihm den Fünfhunderter zurückgeben wollte: ›Geschenkt ist geschenkt!‹ Dann ist er samt Koffer in seine Stube rein …«
Tags drauf sagte Fonty im Paternoster: »Haben furchtbar recht gehabt, Hoftaller. Kann man nicht machen, Frau und Tochter einfach sitzenlassen. Waren beide froh, als ich ganz außer Puste oben mit Koffer und Tüte ankam. Auffallend viele Küßchen von Mete. Und meine Emilie mal wieder in Tränen. Kenn das ja. Wurde mir aber trotzdem kolossal flau, wie ich die beiden am Küchentisch sah und mir vor Augen trat, welche Folgen mein plötzliches Abtauchen … Hatte mir eine torfbeheizte Hütte inmitten Heide und Hochmoor vorgestellt, versteckt hinter Erlen … Doch dieser Alterssitz wäre meinen an sich liebenswerten Damen kaum verlockend zu machen gewesen. Schon London war für Emilie nur erbsensuppiger Nebel … Wollte mich allein und namenlos dem stumpfsinnig nahenden Vergessen zum Fraß hinwerfen. Sterblich sein, Tallhover! Endlich wollte ich sterblich sein … Hätte Metes Hochzeit abwarten sollen und dann erst … Wäre da oben, abgesehen von den drei Macbeth-Hexen – ›Um Mitternacht, am Bergeskamm. Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm‹ –, so gut wie ohne Gesellschaft gewesen. Ganz schön weit weg und der Welt verloren. Schweigt das Leben, so schweigt der Wunsch … Aber so ist es besser, Hoftaller! Verantwortlich handeln. Die Sache durchstehn. Offenen Auges, freiweg … Außerdem will ich meine Mete endlich vorm Traualtar sehn. War immer nur engagiert, nur nicht ›engaged‹. Wird Zeit für das Mädchen, wo sie doch auf die Vierzig zugeht und weit und breit kein Reserveleutnant in Sicht. Hab ihr geschrieben und Glück gewünscht mit dem Herrn Fritsch. Soll tüchtig als Architekt sein und ist Professor sogar … So weit hab ich es nicht gebracht. Ganz zum Schluß noch, bevor es duster wurde, den Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät. Kam auf Vorschlag von Schmidt und Mommsen, der – wegen ›Vor dem Sturm‹ ein kleines liking für mich hatte. Meine Emilie, die ja solchen Klimbim schätzte, konnte sich freuen, ich nicht. Kam zu spät. Wäre lieber, als ich da stand im Talar, im Boden versunken und irgendwo anders rausgekommen. Jadoch! Aufgetaucht in einem schwarzbraunen Wasserloch mit Blasenwerfen und Blubbern. Hätte mich dann in der Hütte am Torffeuer trockengesessen und vor mich hingelacht …«
Kichernd verließ Fonty im dritten Stock den Paternoster. Obgleich mit drei Aktenordnern beladen, gelang ihm ein mutwillig jünglingshafter Hüpfer. Hoftaller, der zwischen den Stockwerken Einsicht genommen hatte, fuhr weiter abwärts und traf sich mit Fonty erst wieder nach einer halben Stunde, als jener im zweiten Stockwerk mit erneuter Aktenlast zustieg, woraufhin beide aufwärts fuhren. Ihr eingeübter Kreisverkehr. Ihre Aufundabreisen ohne Angst vor Wendepunkten. Dabei verging Zeit. Dabei ließ sich gut plaudern. Doch diesmal blieb ihr Paternostergespräch einseitig. Hoftaller begnügte sich als Zuhörer, und nur Fonty redete, als hätte er Quasselwasser getrunken. Übervoll, wie nach langer Reise, sprach er sich aus. Mal war er mit dem Jugendfreund Lepel in Edinburgh unterwegs, mal verplauderte er die Stationen seiner ersten, überstürzten Englandreise, die er dem Militärdienst abgetrotzt hatte, dann zitierte er aus dem Londoner Tagebuch: »Im Café Divan Briefe geschrieben … Gearbeitet … Sadler-Wells: Miß Atkinson als Lady Macbeth …« Schließlich spielte der Briefwechsel mit James Morris, dem er zur Zeit seines zweiten Aufenthalts in England Sprachunterricht gegeben haben wollte, eine die Jahrhunderte raffende und vertauschende Rolle. Enthemmt, weil jenseits aller Zeitbarrieren, zitierte Fonty aus einem annähernd vierzig Jahre später an Morris gerichteten Brief, nunmehr als gegenwärtiger Weltstratege: »Die englische Herrschaft in Indien muß zusammenbrechen, und es ist ein Wunder, daß sie bis auf den heutigen Tag gehalten hat. Sie stürzt, nicht weil sie Fehler oder Verbrechen begangen hätte – all das bedeutet wenig in der Politik
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