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Ein weites Feld

Ein weites Feld

Titel: Ein weites Feld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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zum Reisekader. Na ja, vor achtundsechzig durft er paarmal nach Prag und Karlovy Vary auf Kur, doch mehr war nicht drin. Nee, an diesen Freundlich hätt Mama nicht mal ne Postkarte … so arrogant, wie der ist. Und dann noch das hier, was uns den Rest gegeben hat. Kann man eigentlich nicht laut vorlesen, was da steht: ›… um neun Uhr ist alles aus. Nicht im Sinn einer Todessehnsucht, sondern nur in dem tiefen Verlangen nach Ruhe. Ein so glückliches und bevorzugtes Leben, so viel Freiheit trotz Zwang, so viel gelebte Unsterblichkeit: und doch, was soll der Unsinn!‹ Ziemlich wirr alles, aber Sie vom Archiv werden schon wissen, was Fakt ist., wo genau er das herhat und was er alles dazwischenmixt, wenn er sich reinsteigert und denkt, er ist was Besonderes. Doch Mama, die immer alles ganz wörtlich nimmt, war fix und fertig. Na, weil sie mit Vater drinsteckt in dieser verdammten Rolle. Wir mußten ja beide, damit er Ruhe gab, mitspielen all die Jahre lang. War das ein Theater manchmal. Nur die Jungs machten nicht mit, Georg schon gar nicht. War ihnen peinlich. Sind deshalb drüben geblieben bei Tante Lise, wo sie auf Ferien waren, als die Mauer kam. Na, weil sie das nicht aushalten konnten. Ich schon. Schon als Kind, wenn Vater mich mitnahm auf Kulturbundreise, war ich seine Mete und angeblich hugenottisch, wie Mama und er sowieso. Dabei ist sie ne geborene Hering und stammt genau wie Tante Pinchen aus Oberschlesien. Und Vater, selbst wenn er immer sagt: ›Theo Wuttke, das ist nur amtlich und taugt allenfalls fürn Rentenbescheid‹, hat natürlich kein Tröpfchen Französisches in sich, jedenfalls nicht, daß ich wüßte. Nix ist da dran. Aber weil Geburtstag und Neuruppin gleich sind, nur alles genau hundert Jahre später, hat ihm das gereicht. Und alle haben mitgemacht, na, Sie doch ganz besonders, die Herren Bescheidwisser vom Archiv. Macht Spaß, nicht wahr, dem alten Mann zuzuhören, wenn er alles, aber auch alles auswendig brabbelt. Ein Stichwort reicht, und schon kann er das Wasser nicht halten. Genau, Sie sagen es: Ellenlange Balladen, halbe Romanseiten, das märkische Zeug, sogar die ollen Kriegsschmöker hat er intus. Und uns, nicht nur Mama und mich, auch die Jungs, als die noch hier waren, hat er gezwungen, nein, gezwungen stimmt nicht … Aber wir haben uns fügen müssen und ja und amen gesagt, jedenfalls im Prinzip. Mama, weil sie mußte, und ich, weil ich verdammt nochmal an ihm häng und ihn bewundert hab sogar, als Kind schon, wenn alle geklatscht haben zum Schluß, na, in Oranienburg oder Potsdam, wo ich oft mit war. Nix war mir peinlich. Aber die Jungs, die ja älter waren, besonders Georg, haben nicht mehr mitmachen gewollt. Sagte ja schon, daß sie deshalb im Westen geblieben sind. Noch heut ist Friedel sauer wegen dem Unsterblichkeitstick, wie er sagt. Und bestimmt will Teddy deswegen nicht zur Hochzeit kommen. Am meisten aber hat Georg, sein Liebling, quergeschossen, sogar von drüben noch: ziemlich gemeine Briefe. Verhöhnt hat er ihn: Parteiredner, Genosse Witzbold und so. Aber Fakt ist, daß Vater nie Mitglied gewesen ist, wie ich etwa, weil ich geglaubt und geglaubt hab, viel zu lange natürlich … Na klar, daß in Vaters Brief auffem Küchentisch kein Wort stand über die Jungs, nur über Mama und mich. Bin ja oft genug mit ihm auf Tour gewesen, hab sogar seine Wanderungen, wie sie im Buch stehn, mit ihm abgelaufen am Wochenende. War fünfzehn oder sechzehn, jedenfalls schon mit Blauhemd, genau. Und da standen wir dann, als er in Rathenow nen Vortrag gehalten hat, hinterher beide vor Kattes Gruft in Wust. War richtig unheimlich drinnen. Und Vater hat über Katte geredet, als wär das gestern passiert: Kopf ab und so. Und vorher noch Kußhand vom Kronprinz. Aber vom Herrenhaus nix mehr da. Sag ja: immer zu Fuß, kreuzquer durch die Uckermark oder ab Freienwalde alles erwandert. Übern Schwielowsee natürlich, von Caputh mit nein Dampfer. Oder ab Lübbenau innen Spreewald rein. Schloß Kossenblatt: krieg jetzt noch nen Schauder, weil Vater überall seine Gespenstergeschichten … Weiße Frau und sowas … Und immer wieder in die Ruppiner Gegend: per Bahn, per Dampfer, zu Fuß … Wenn ich zurückdenk, war gar nicht mal übel mit ihm auf Schusters Rappen … All die Pfarrhäuser, die meistens Bruchbuden waren. Aber interessant, was man hörte, auch wenn keine Politik vorkam, nur Kirchenbücher, Chroniken, langweilige Sterberegister. Von Sozialismus kein Wort. Kam einfach nicht vor. Und

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