Ein weites Feld
Verspätung. Beide Frauen brachten ihn zu Bett. Er ließ das mit sich geschehen. Kein Wort, keine Klage. Nur beim Fiebermessen sagte er leise und doch wie vor Publikum deklamierend: »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.« Als Emmi Wuttke den Hexenspruch schottischer Herkunft hörte, rief sie: »Nu wirste uns och noch krank, Vater!«
10 Warum am Ringfinger gezerrt wurde
Die Ehe war schwierig, die eine, die andere, doch beide hielten. Jene mit Emilie, geborene Rouanet, deren leiblicher Vater Bosse, deren Adoptivvater Kummer hieß, dauerte achtundvierzig Jahre, und der Bund mit der geborenen Emmi Balunek, die, dank des Stiefvaters Namen, als Bürofräulein Emmi Hering hieß, blieb gleichfalls krisenfest, trotz brüchiger Nähte. Fonty neigte dazu, über die zweite zu klagen, wenn die erste gemeint war, und doch lobte er in Briefen wie bei Archivbesuchen die mit Emilie ausgelebte Ehe als ein »alles in allem strapazierfähiges Bündnis«, das ihm und Emmi beispielhaft vorgeschrieben bleibe: »Wir sind zu verzwirnt, um auseinander zu können …« Im Grunde hing er an beiden Frauen, denn das gelegentliche Zetern der hugenottischen Emilie und der oberschlesischen Emmi war ihm zwar schrille, doch lebendige Musik. In einem Brief an Martha Wuttke, den er später, Wochen nach seiner Erkrankung, geschrieben hat, lesen wir: »Mama verfällt leicht in ein gewisses Irrereden, und wenn man ihr einen Kranz einflicht, so ist Ophelia oder ohne Kranz die Lady Macbeth fertig; zwei Stunden später futtert sie dann eine Schinkensemmel …« Und mit Zitaten dieser Art berief Fonty beide Ehen. Je länger sie dauerten, um so häufiger stand ihm aus doppelter Sicht, mal als Schrecknis, dann wieder als sauer verdiente Belobigung, die Goldene Hochzeit vor Augen. Selbst wenn er Ende der siebziger Jahre sein Eheleben als »unseren Dreißigjährigen Krieg« überschaut und mit wenigen Freunden abgefeiert hatte, hoffte er dennoch nicht auf Friedensschluß; auch bei den Wuttkes hing oft der Haussegen schief.
Sobald uns die historische Emilie auf Photos streng zugeknöpft entgegentritt, entspricht ihre steife Würde den Möglichkeiten damaliger Atelierphotographen, denen Momentaufnahmen nicht glücken wollten; aber Emmi wurde uns lebhafter und dergestalt leibhaftig bekannt, daß wir sie mit Schnappschüssen vorstellen könnten. Sie war eine gemütvoll leidende Person, die zur Fülle neigte – nein, sie war dick. Wenn die photographierte Emilie matronenhaft stattlich auftrat, kam uns Emmi, sobald wir die Wuttkes besuchten, überbordend entgegen: mal aufgekratzt, dann wieder als Trauerkloß. Meistens erlebten wir sie in kurzärmeliger Kittelschürze und in ausgetretenen Schlorren. Kaum hatten wir im dritten Stock geklingelt, stand sie in der Wohnungstür mit vor der Brust verschränkten Unterarmen: eine fleischige Bastion, die geduldig überredet werden wollte, was nicht schwerfiel, denn Emmi Wuttke sprach gerne mit uns über Unpäßlichkeiten, denen stets der Jammer über ihres Mannes kaum faßliche Existenz beigemischt war. Ob sie über Blasen- oder Atembeschwerden klagte, verläßlich beschloß sie ihren neuesten Leidensbericht mit dem Satz: »Aber mein Wuttke macht alles immer noch schlimmer.« Und doch wurde mit dem Gejammer der alten Frau die junge Emmi Hering wachgerufen. Laut leidend blühte sie auf. Das Bürofräulein muß hübsch, zumindest anziehend gewesen sein. Wir stellten uns ihr früh ergrautes, später leider blauschwarz gefärbtes Haar in naturwüchsiger Bräune vor; »kastanienbraun«, wie uns Fonty versichert hat. Wenn Erwin lachte, lachte in ihr versteckt noch immer ein junges Mädchen. Jedenfalls war zu ahnen, warum sich der Soldat Theo Wuttke im Frühling 194o in die knapp achtzehnjährige »flotte Tippse« verlieben konnte; und zwar Knall auf Fall. Wie wir wissen, geschah es im Paternoster. Später saßen sie, von Kurzurlaub zu Kurzurlaub, im frühlingshaften oder herbstlichen Tiergarten, bestimmt auf einer Bank der Rousseau-Insel gegenüber, und hinter ihnen blühte der Holunder oder war reif. Der Soldat erzählte Anekdoten aus dem besetzten Frankreich. Der Soldat lud das Mädchen zum Rudern ein. Auf dem großen Kunstsee nahe dem Zoogelände ruderten sie abwechselnd. Und schon bald, das hieß nach nächster Dienstreise, verlobten sie sich. Tante Pinchen, bei der Emmi wohnte, hatte nichts dagegen, wenn der junge und überdies unterhaltsame Soldat in der Weißenburger Straße, die schon wenige Jahre später
Weitere Kostenlose Bücher