Ein wildes Herz
Dunkeln am Fluss lag, sah er sie wieder vor sich, all diese Gesichter, und er fragte sich, ob das wohl Menschen seien, die er gerne kennen lernen wollte.
An manchen Tagen stieg er in seinen Pick-up und fuhr ziellos in der Gegend herum, die Koffer auf dem Beifahrersitz neben sich. Manchmal hielt er an und schaute in die Berge, über bewirtschaftete Felder, die jetzt im Sommer nach Hitze und Trockenheit und dem zweiten Mähen nur noch graugoldene Stoppelfelder waren. Er sah sich das Land einfach an. Er betrachtete es aus jedem Winkel.
Nichts, was er tat, blieb unbemerkt. Wonach suchte er
bloß?, fragte man sich überall in der Stadt. Und was genau schaute er sich eigentlich an?
Man wartete. Man wartete darauf, dass er etwas tun würde, und bis er den ersten Schritt machte, würde niemand ihm die Hand reichen, und keiner würde seinen sanften Blick erwidern.
Er war einfach da wie eine Vogelscheuche im Garten.
Nach einer Woche kam endlich Bewegung in die Sache. Charlie Beale stand beim ersten Tageslicht auf, als noch immer eine bleiche Mondsichel am Himmel stand, und rasierte sich im Rückspiegel seines Pick-up. Er zog sich ein frisches weißes Hemd an, fuhr in die Stadt, setzte sich zu Russell Hostetter an den Frühstückstisch und kaufte ihm die fünfzig Morgen Land ab, auf denen sein Pick-up geparkt war.
Er bezahlte mit tausend Dollar in bar.
»Wollen Sie bauen?«, fragte Russell.
»Ich glaube nicht«, antwortete Charlie. »Es ist ein friedliches Fleckchen. Ich möchte einfach nur meine Ruhe.«
»Nun, ruhig ist es da draußen«, sagte Russell. »Aber eins muss ich Ihnen sagen«, fügte er mit einem Blick auf das Bündel Hundertdollarscheine hinzu. »Zu mehr als Ruhe und Frieden taugt das Land nicht.«
»Mehr will ich auch nicht.«
»Ist feucht.«
»Ich will dort draußen nicht bauen.«
Man gab sich die Hand, und Charlie sagte, er werde das Land vermessen lassen und für einen Eintrag beim Katasteramt sorgen. Dann widmete sich Russell wieder seinem Frühstück, und Charlie kehrte zu seinem Pick-up zurück, dessen Ledersitze bereits warm von der Morgensonne waren, fuhr los und setzte sich an den Fluss, auf dem Land,
das jetzt ihm gehörte, bis es später Morgen war. Er zog sein Hemd aus und ließ sich die Sonne auf die nackte Haut scheinen.
In ihm herrschte vollkommener Frieden, während er da saß und das Wasser vorbeiströmen sah, denn er wusste, wo auch immer er den Fuß hinsetzte, gehörte das Land ihm. Und wenn das Wasser stieg – und früher oder später würde es das –, dann würde es sein Land eben überfluten.
Zu Beginn seiner zweiten Woche in der Stadt holte er seine Messer aus dem Koffer und schliff sie. Dann fuhr er in die Stadt und parkte seinen Wagen vor Will Haisletts Metzgerei. Die Geschäfte schlossen bereits für die Mittagspause, und die Ladenbesitzer gingen zum Essen nach Hause.
Er stieg aus, schloss den Pick-up ab, ging hinüber zum Eingang der Metzgerei, zog an dem Türknauf, auf dem GWALTNEY’S HAM stand, und trat ein. Die Glocke über der Tür klingelte. Ein kleiner Junge stand mitten im Laden, in Shorts, T-Shirt und barfuß auf dem mit Sägespänen bestreuten Boden. Charlie Beale sah niemand anderen als dieses Kind. Das blonde Haar des Jungen war kurz geschoren und schien in dem Lichtstrahl, der von der Straße hereinfiel, und der blendenden Reflexion von der Windschutzscheibe eines vorüberfahrenden Autos beinahe zu glühen. Staubflusen schwebten in der Luft rund um diesen ruhigen, goldenen Haarschopf.
Sie standen still da, ein erwachsener Mann und ein kleiner Junge. Alles kam einen Moment lang zum Stillstand, bis auf das Summen der Fliegen und die winzigen Staubpartikel in der Luft, und auf einmal fühlte sich der Mann unbeholfen, zeichnete mit dem Fuß Linien in die Sägespäne am Boden, und der Junge bannte ihn mit einem durchdringenden Blick, als würde er durch ihn hindurch auf eine Landschaft
blicken und Charlie wäre gar nicht da. Ein winziges Stückchen Zeit in einer kleinen Stadt, vor vielen, vielen Jahren.
»Ich bin Charlie Beale.«
»Beebo«, war alles, was der kleine Junge sagte. Er schüttelte den Kopf und schaute weiter an Charlie vorbei auf jene andere Landschaft. Sein Gesicht war todernst.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Ladens, und die schwere Tür des Kühlraums ging auf. »Jeder weiß, wer Sie sind. Niemand weiß, was Sie wollen, aber es gibt in der ganzen Stadt keinen einzigen Menschen, der nicht weiß,
Weitere Kostenlose Bücher