Ein Winter mit Baudelaire
du … Ich schäme mich dermaßen … Ich gehe nicht mehr ans Telefon, wenn meine Mutter anruft … Die Arme, das könnte sie nicht ertragen … Und seit zwei Wochen traue ich mich auch nicht mehr, meine Tochter anzurufen, dabei hatte ich ihr versprochen, mich jeden Abend zu melden und ihr eine Geschichte zu erzählen … Meine kleine Prinzessin …«
Philippe zündet sich eine Zigarette an. Eine Mauer des Schweigens trennt die beiden Männer.
»Ich kann nicht, Philippe …«
»…«
»…«
»Verstehe …«
»Nimm’s mir nicht übel, aber ich kann es wirklich nicht. Wo doch bald das Baby kommt … und dann derKleine … und Gaëlla … ich meine, in Bezug auf Sandrine …«
»Ich sagte doch, das verstehe ich. Mach dir keine Sorgen, ich komme schon klar …«
»Bestimmt?«
Philippe, der Gaëlla mit Victor zurückkommen sieht, nimmt einen Schluck Bier.
»So«, sagt Gaëlla, als sie wieder sitzt. »Wie wär’s, wir gehen zu Fuß zum Seineufer?«
Philippe und Jérôme sehen sich an.
»Ja, gute Idee«, sagt Philippe schließlich lächelnd.
Gaëlla dreht sich zu Jérôme.
»Sollen wir dann in Saint-Michel unseren Zug nehmen?« Jérôme nickt, lächelt und gibt ihr einen Kuss.
Philippe nimmt die Rechnung, um zu sehen, wie viel er bezahlen muss, und zieht sein Portemonnaie aus der Tasche. Jérôme bremst ihn.
»Nein, ist schon gut, lass das …«
»Wirklich?«
»Aber ja doch. Das ist ja wohl das Mindeste …«
Draußen
Philippe begleitet Jérôme und seine kleine Familie bis zum Metro-Eingang. Es ist kurz nach 18 Uhr. Der Tag ist noch warm und strahlend hell. Der Sommer hat die lauernde Frühlingsfrische endgültig vertrieben.
»Also dann …«, sagt Philippe.
Er gibt Gaëlla einen Kuss auf jede Wange.
»Bist du sicher, dass du nicht mehr bei uns zu Abend essen willst?«, fragt sie.
»Das ist nett von dir, aber ich esse schon mit einem Arbeitskollegen …«
»Stimmt, das sagtest du ja …«
Philippe hockt sich nieder und streicht Victor sanft übers Haar.
»Tschüs, Kleiner … Sei nett zu deiner Mama …«
Ans Bein seiner Mutter geschmiegt, schenkt ihm Victor ein schüchternes Lächeln. Jérôme geht auf Philippe zu und umarmt ihn.
»Wir telefonieren?«
»Klar doch!«, antwortet Philippe.
»Pass auf dich auf.«
Man trennt sich.
»Ach, eine Sache noch …«
Jérôme dreht sich mit fragendem Blick um. Philippe macht einen Schritt auf ihn zu.
»Wie viel schulde ich dir fürs Kino?«
»Nichts, nichts …«
»Bist du sicher?«
»Ja, vergiss es …«
Nach einem letzten Abschiedsgruß führt Jérôme seine Familie fort. Während sie die Stufen zur Métro hinuntergehen, winkt Victor Philippe mehrmals zu, was dieser lächelnd erwidert.
Als der unterirdische Gang und der Lauf ihres Lebens die drei längst verschluckt und mit sich gerissen hat, verharrt Philippe noch lange wie betäubt, um ihn herum das wimmelnde Leben und die wogende Menge der Passanten, die kommen und gehen, sich begegnen, sich ausweichen, sich für den Abend treffen oder bis zum nächsten auseinandergehen.
Bleich und verschwommen klammert sich eine schmale Mondsichel ans Blau des Himmels.
Ohne Ziel und Quartier
Er überquert die Seine und läuft am Ufer entlang. Langsam. Gegen die Fahrtrichtung der Autos.
Zunächst nach Westen, die Augen zusammengekniffen im Feuer der untergehenden Sonne. An der Place de la Concorde nimmt er die große baumbestandene Allee, die zu den Champs-Élysées führt. Am Fuß der schönsten Straße der Welt betrachtet er einen Moment lang den Triumphbogen am Horizont, der in ein langsam erlöschendes Glutrot getaucht ist. Die Straßenlaternen beginnen zu leuchten, die Schatten strecken sich, werden mehr.
Er kehrt um. Der Mond hat sich fest an den Himmel geklammert und strahlt nun siegesgewiss. An der Place de la Concorde überquert er wieder die Seine und nimmt die Uferstraße in östlicher Richtung, wieder entgegen der Fahrtrichtung. Er kommt an der Stelle vorbei, an der er vor ein paar Stunden die Menschen, die er kannte, verlassen hat. Er bleibt nicht stehen. Der Strom der Autos ist nicht mehr so dicht. Die Terrassen sind voll. Notre-Dame ist erleuchtet.
Er geht weiter, überquert nochmals die Seine und setzt seinen Weg in nördlicher Richtung fort. Festliches Treiben an der Bastille. Lustlose Weite an der Place de la République.
Er lässt sich treiben, gelangt zum Canal Saint-Martin. Die Ufer Inseln der Sorglosigkeit inmitten von Obdachlosenzelten.
Er macht nur einen kurzen Abstecher
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