Ein Winter mit Baudelaire
die Straße hinunter, biegt nach rechts ab, dann nach links, stößt wieder auf den Wasserlauf des Canal Saint-Martin, überquert ihn. Hin und wieder öffnet er auf gut Glück eine Mülltonne, wirft einen kurzen, prüfenden Blick hinein und geht weiter.
Er biegt in eine kleine Straße ein. Neben einem Garagentor stapeln sich große Teile von zerfledderten Kartons. Er legt mehrere von ihnen aufeinander und lässt sich darauf niedersinken.
Es ist fünf Uhr
Hoch oben am Himmel schreien Vögel, als er die Augen aufschlägt. Zwei Männer der städtischen Reinigungsbetriebe in ihren grünen Overalls säubern am anderen Ende der Straße Fahrbahn und Bürgersteige. Ein Kleinfahrzeug samt Hochdruckreiniger mit großer Reichweite. Papiere, Zigarettenstummel und Abfall werden schonungslos in den Rinnstein gespült und von dort in die Kanalisation. Ein Stück weiter schiebt ein Bäcker das Eisengitter seines Geschäfts hoch. An der Ecke verteilt ein Kellner Tische und Stühle auf der Terrasse eines Cafés.
Es ist kurz nach fünf. Sonntagmorgen. Paris erwacht. Verkatert von einer verrauchten, kräftig begossenen Samstagnacht.
Er blinzelt und setzt sich auf, schiebt dabei die eiskalten Füße unter sein Gesäß. Er massiert seine Arme und den Oberkörper, reibt sich über den Bauch, zündet sich eine Zigarette an und sieht sich um. Aus der vorderen Hosentasche zieht er sein Portemonnaie heraus. Er macht es auf. Ihm bleiben noch die neun Euro und dreiundzwanzig Cent, die er vor dem Kinobesuch hatte. Sein Blick verharrt für einen Moment auf dem Foto seiner Tochter.
Plötzlich richtet er sich auf, schiebt mit gerunzelter Stirndie Hand erst in die eine, dann die andere Gesäßtasche seiner Hose und zieht den Schlüssel des Schließfachs an der Gare Montparnasse hervor, in dem er seine Sachen untergebracht hat.
»He!«
Er hebt den Kopf. Der kleine grüne Mann mit dem Hochdruckgerät ist nur noch ein paar Meter entfernt und bedeutet ihm, aufzustehen.
Er gehorcht. Nach den ersten Schritten, die so zögerlich sind, als liefe er über Glasscherben oder glühende Kohlen, geht er rasch auf dem noch trockenen Asphalt der Straße davon.
Er betritt eine Bäckerei, kauft ein halbes Baguette – fünfunddreißig Cent – und verschlingt es, während er den nächsten Metroeingang erreicht, in den er hinabsteigt, ohne sich eine Fahrkarte zu kaufen.
Der Duft der Nacht
Er lässt sich auf einen der kleinen roten Sitze fallen, die den Bahnsteig in Dreier- oder Vierergrüppchen säumen.
Um diese Uhrzeit, und dann auch noch an einem Sonntagmorgen, sind nur wenige Menschen unterwegs. Drei Jugendliche um die zwanzig, zwei Jungs und ein Mädchen, umnebeltes Hirn, verschleierter, leerer Blick, jetzt noch betrunken von den Exzessen einer durchwachten Nacht. Dann eine Frau um die fünfzig, herausgeputzt und adrett, mit einem Weidenkorb in der Hand. Und schließlich zwei Männer, der eine aus Indien, der andere aus Afrika, alterslos und ohne besondere Merkmale, bis auf die leichte Müdigkeit vielleicht, die sich an die tiefen Schatten unter ihren Augen geheftet hat, nachdem sie der sonntäglichen Ruhepause getrotzt haben und so früh aufgestanden sind. Durch Abwesenheit glänzt aufgrund des arbeitsfreien Tages nur der dynamische, rührige Angestellte in Führungsposition, frisch gewaschen und gekämmt, die Tageszeitung tatendurstig im Anschlag.
Die Digitalanzeige, die über die Wartezeit bis zu den nächsten Zügen informiert, gibt sechs Minuten für den ersten und vierzehn Minuten für den zweiten an.
Als die Metro in die Station einfährt, reißt ihn das Kreischender Metallräder auf den Schienen aus seinem Dämmerzustand. Er steht auf. Die Türen öffnen sich. Es ist keine Stoßzeit. Kein lächerliches Gedränge. Keine gereizten Seufzer oder Schulterstöße oder gequetschten Füße, kein verkrampftes Murren, keine feige in den Bart gemurmelten Beschimpfungen.
Er steigt ein. Und mit ihm seine asphaltgeschwärzten Füße und der Duft einer obdachlosen Nacht.
Maximal zehn Fahrgäste teilen sich die gesamten freien Plätze. Er setzt sich in ein vollkommen leeres Viererkarree. Im Nachbarkarree, auf der anderen Seite des Mittelgangs, steht ein Mann seines Alters auf, um sich am anderen Ende des Wagens einen Platz zu suchen. Die Blicke weichen aus, entziehen sich.
Jedes Mal wenn an den Metrostationen Menschen zusteigen, verhärten sich ihre Gesichter, sobald sie ihn ausmachen, und sie verschanzen sich rasch hinter einem Ausdruck scheinbarer
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