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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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und geht weiter bergan Richtung Belleville. Bunte Vielfalt in der Rue Sainte-Marthe. An der Kreuzung des Boulevard de la Villette und der Rue du Faubourg-du-Temple dann die Begegnung zwischen Maghreb und Asien, marktschreierisch die einen, auf leisen Sohlen die anderen.
    Er setzt sich auf eine Bank. Er stützt die Ellbogen auf die Rückenlehne, lässt die Unterarme hängen, legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Er ringt nach Luft.
    Nach und nach geht sein Atem langsamer. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtet er sich wieder auf, neigt den Oberkörper nach vorn und stützt sich auf die Oberschenkel.
    Er beugt sich noch weiter vor und zieht den rechten Schuh aus, ohne die Schnürsenkel zu lösen. Dann streift er den Strumpf ab. Mit geschlossenen Augen und offenem Mund massiert er sich lange den Fuß. Nach einer Weile wechselt er die Seite und wiederholt das Ganze mit dem linken Fuß. Schließlich zieht er die Beine hoch bis ans Gesäß, lässt sich auf die Seite sinken und legt sich zusammengekauert auf die Bank.
    Passanten werfen ihm kurze Seitenblicke zu, bevor sie ihn rasch wieder aus ihrem Gesichtsfeld löschen, als hätte er niemals existiert.
    Er schläft ein.

Vogelfrei
    Er wacht auf und fährt hoch. Sein Atem geht in kurzen, schnellen Stößen. Ängstlich schweift sein Blick über die Bürgersteige und Gebäude ringsum. Auf dem Boulevard sind jetzt weniger Menschen. Die Stadt ist noch ganz in Dunkelheit gehüllt. Das Schild des Royal Belleville wirft weiter sein Licht auf die Grenze zwischen Maghreb und Asien.
    Er legt sich wieder hin, stößt einen tiefen Seufzer aus, reibt sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Stirn ist bis in die Haarwurzeln hinein mit getrocknetem, fettigem Schweiß bedeckt. Die Kälte ist ihm in die Füße und Fäuste gekrochen.
    Träge lässt er einen Arm zu Boden sinken. Seine Hand greift nach den Schuhen und Strümpfen. Plötzlich erstarren die Finger und beginnen suchend den Asphalt abzutasten.
    Er dreht sich auf die Seite, schaut unter die Bank: nichts. Er steht auf, kniet sich hin und sucht voller Panik nochmals den leeren Asphalt ab.
    Seine Bewegungen werden langsamer, bis sie völlig erlahmen angesichts dessen, was offenbar geworden ist: Die Schuhe und Strümpfe sind nicht mehr da.

Abfall
    Eine Zeit lang ist er wie benommen, dann geht er los, mit nackten Füßen auf dem Asphalt. Die Cafés und Restaurants sind jetzt geschlossen. Passanten sind rar. Nur vor manchen Lokalen, aus denen dumpfe Rhythmen dringen, sammeln sich Trauben von Nachtschwärmern. Die Digitaluhr einer Apotheke zeigt 3 Uhr 16 an. Seine Füße sind schon schwarz.
    Er verlässt die Hauptverkehrsader und biegt in eine kleine Straße ein. Die Mülleimer sind vor die Häuser gestellt. Sie markieren die Gehwege wie Nummern die Hauswände. Trotz der Autos und Passanten, die hin und wieder vorbeikommen, macht er Tonne um Tonne auf, zieht die Plastiktüten heraus und durchwühlt sie. Gerüche nach Essig und Verschimmeltem. Feuchter, kalter Asche. Saurer Milch und Resten von billigem Wein. Gerüche, die sich an Kleider und Haut heften.
    Anfangs wendet er das Gesicht ab, zieht angewidert die Nase kraus, um möglichst wenig einzuatmen, und entblättert den Müll mit spitzen Fingern. Dann aber reißt er die Säcke auf, greift entschlossen, manchmal bis zu den Ellbogen hinein, ohne noch darauf zu achten, dass Hemd und Hose nicht schmutzig und feucht werden.
    Als sein Arm wieder in eine Tüte eintaucht, verzieht erbegierig den Mund. In rasender Hast weidet er den Müllbeutel aus, schüttelt ihn, bis sich alles auf die Straße ergießt, kniet nieder, seziert den Inhalt und fischt endlich eine alte, abgetragene, schrumpelige Sandale heraus. Immer noch auf den Knien, dreht er sich um und nimmt den Schuh im gräulichen, flackernden Licht der Straßenlaternen in Augenschein. Er legt ihn zur Seite, greift wieder mit beiden Händen in den Müllhaufen. Je länger er wühlt, desto frenetischer werden seine Bewegungen, bis er in einem Ausbruch von Verzweiflung und Wut den ganzen Teppich aus Müll durcheinanderwirbelt und schließlich darauf zusammenbricht.
    Langsam richtet er sich wieder auf, rutscht aus, erhebt sich von Neuem. Er nimmt die Sandale, probiert sie an. Sie ist viel zu groß. Mindestens Schuhgröße vierundvierzig, und er hat gerade mal zweiundvierzig. Er zieht sie wieder aus, begutachtet sie im zittrigen Licht der Laternen ein letztes Mal, lässt sie achtlos fallen und setzt seine Wanderung fort.
    Er läuft

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