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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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Teilnahmslosigkeit. Wer einen Platz in seiner Nähe ansteuert, ändert bei seinem Anblick die Meinung und nimmt mit schiefem, verlegenem Lächeln einen weiter entfernten Platz. Manche wechseln an der nächsten Station den Wagen. Wer ihn schon vom Bahnsteig aus gesichtet hat, erspart sich derartige Manöver und steigt gleich in einen anderen Wagen.
    Er schließt die Augen.

Start
    Metrostation und Gare Montparnasse. Startbahnhof für Reisen in den Südwesten, die großen Ferien. Richtung Sonne und Sorglosigkeit an den Stränden der Côte Sauvage, der Côte Landaise, Bordeaux, Biarritz.
    Er verlässt die Metro. Folgt den Schildern »Fernzüge«. Die Blicke, denen er begegnet, schweifen über ihn hinweg wie über Wände oder Plakate.
    In der Bahnhofshalle begibt er sich zum Schließfach, in dem er am Vortag Koffer und Computer deponiert hat. Er öffnet es, nimmt seinen Kulturbeutel und saubere Anziehsachen: Hose, T-Shirt, Unterhose, Strümpfe und vor allem Schuhe, Pullover, Blouson.
    Von dort aus geht er zu den öffentlichen Duschen und Toiletten. Am Eingang, hinter einer Theke, sitzt eine Frau im Arbeitskittel des Reinigungspersonals.
    »Einmal Duschen und ein Handtuch, bitte.«
    »Vier Euro achtzig.«
    Er zückt sein Portemonnaie und legt ihr das Geld hin. Sie gibt ihm das Handtuch und sein Wechselgeld. Er hat nur noch vier Euro und acht Cent.
    »Danke.«
    »Zum ersten Mal hier?«
    Ohne sie anzusehen, sagt er Ja.
    »Suchen Sie sich eine aus, Sie sind der Erste.«
    Er bedankt sich leise nickend mit einem müden, aber aufrichtigen Lächeln, den Blick zu Boden geschlagen.
    Langsam geht er zu den Männer-Kabinen. Durch den starken Chlor-Geruch, der in den Räumen hängt, wird die Sauberkeit geradezu greifbar.
    Er verschwindet in der letzten Dusche der Kabinenreihe, schließt die Tür, zieht sich aus, hängt seine sauberen Kleider an die dafür vorgesehenen Haken, faltet die schmutzigen zu einem kleinen, kompakten Bündel und stopft es in eine Ecke gegenüber der blauen Wanne, über der sich der Duschkopf befindet.
    Das Handtuch breitet er über die sauberen Sachen, dreht den Wasserhahn auf, stellt die Temperatur ein, tritt unter den warmen Strahl und wäscht sich von Kopf bis Fuß.
    Als er wieder trocken ist, nimmt er sein Deodorant, einen Spritzer Eau de Toilette, kleidet sich an, putzt sich die Zähne, kämmt sich und sucht die Toilette auf.
    Bevor er geht, gibt er der Frau am Eingang das Handtuch zurück.
    »Eigentlich wären’s noch fünfzig Cent für die Toilette …« Die beiden sehen sich an. Ungefragt hält sie ihm eine Plastiktüte hin.
    »Hier, für Ihre dreckigen Sachen. Damit die anderen sauber bleiben.«
    Er nimmt die Tüte, erwidert ihr Lächeln und kehrt zu seinem Schließfach zurück, um den Kulturbeutel und die in der Nacht beschmutzten Kleider unterzubringen, dann tritt er hinaus ins Tageslicht.

Streunender Hund
    Nachdem er den Bahnhof verlassen hat, überquert er den Vorplatz und geht an den Häuserzeilen entlang Richtung Rue de Rennes. Die Sonne scheint. Er kneift die Augen zusammen. Ringsum rührt sich das Leben. Nicht so hektisch wie an Wochentagen, aber mit der gleichen Intensität.
    Unterwegs kommt er an einem Crêpe-Stand vorbei, der schon seit den frühen Morgenstunden geöffnet hat, um nach Schließung der Diskotheken eine ausgehungerte, betrunkene Jeunesse dorée zu bedienen, die sich anschließend heimbegibt, um in frisch bezogenen Betten sorglos ihren Rausch auszuschlafen. Er liest die Preise und bestellt eine Schinken-Käse-Crêpe, über die er sich hermacht, während er den Boulevard Edgar Quinet und die Rue de la Gaîté hochgeht.
    Dort setzt er sich auf eine leere Bank. Die Crêpe ist kalt geworden. Er hat nur noch achtundfünfzig Cent in der Tasche.
    Während er sein karges Mahl verschlingt, nähert sich ihm zaghaft ein Hund mit zerrupftem Fell. Aufmerksam schnüffelnd wedelt er leicht geduckt mit dem Schwanz. Dann setzt er sich japsend und mit hängender Zunge vor ihm auf den Boden. Ab und zu hört er ganz auf zu atmen, macht die Schnauze zu und sieht ihn konzentriert an, mit aufgerichtetenOhren, wovon das linke etwas stärker geknickt und tief eingekerbt ist. Nach ein paar Sekunden beginnt er wieder zu japsen, jault, als wollte er betteln, hält den Atem an, bringt die Ohren in Habachtstellung, und das Ganze geht wieder von vorn los. Ab und zu hebt er das Hinterteil ein paar Zentimeter an und duckt sich leicht, als wollte er aufstehen oder gar losspringen, aber jedes Mal setzt er

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