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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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sich doch wieder hin und fährt fort, abwechselnd zu japsen, zu jaulen und die Ohren aufzurichten.
    Laut raschelnd zerknüllt Philippe das Crêpe-Papier. Ihm bleiben nur noch ein oder zwei Bissen. Die besten, nämlich die aufgerollte Teigspitze, in der am meisten Schinken und Käse steckt.
    Er sieht den Hund an und hebt den kostbaren Bissen andeutungsweise in seine Richtung. Sofort hört der Hund auf zu atmen, die Augen weit aufgerissen, die Ohren gespitzt, die Brust gewölbt.
    Sachte bewegt Philippe die Hand in die Richtung des Tieres. Auf halbem Weg hält er inne.
    »Schön langsam!«
    Er bewegt die Hand weiter und hält wieder inne.
    »Langsam …«
    Er nähert sich noch ein kleines Stück, sodass er das Tier fast schon berührt, und verharrt in dieser Haltung. Auch der Hund rührt sich nicht, die Augen auf das mit Käse und Schinken gefüllte Stück Crêpe geheftet. Zwei Speichelfäden laufen aus seinen Lefzen. Langsam öffnet er die Schnauze, neigt den Kopf, um den hingehaltenen Bissen besser fassen zu können, nimmt ihn vorsichtig, zieht den Kopf wieder zurück und verschlingt das Teigstück so gierig, dass er fast daran erstickt.
    »Na, so was!«
    Er öffnet die Hand. Der Hund holt wieder Luft und leckt ihm die Finger ab.
    »Tja, das war’s! …«
    Philippe streichelt ihm den Kopf und krault ihm den Hals. Der Hund blinzelt, drückt mit der Schnauze seinen Arm hoch und legt ihm den Kopf in die Handfläche.
    Er lächelt, kneift dem Tier in die Backe und steht auf.
    Sofort fixiert ihn der Hund, die Ohren aufgestellt wie zwei Fragezeichen. Er dreht sich einmal um sich selbst, legt schwanzwedelnd, mit erhobenem Hinterteil die Vorderbeine auf den Boden und bellt mehrmals.
    »Nein, nein, nein, ich will nicht spielen.«
    Philippe wendet sich zum Gehen. Der Hund bellt noch lauter und läuft ihm nach.
    Philippe bleibt stehen, dreht sich um, geht in die Hocke. Der Hund setzt sich und schaut ihn schwanzwedelnd und mit hängender Zunge an. Mehrmals streckt er eine Pfote in seine Richtung und lässt sie wieder sinken.
    »Ich kann dich nicht mitnehmen … Verstehst du?«
    Die beiden sehen sich an. Der Hund macht die Schnauze zu, hört auf zu atmen und richtet die Ohren auf, dann beginnt er wieder zu japsen und hält ihm die Pfote hin.
    Philippe bückt sich, nimmt die Pfote und drückt sie, wie er einem Menschen die Hand geben würde. Er streichelt den Hund ein letztes Mal und geht davon, ohne sich umzudrehen.
    Bevor er in eine Querstraße einbiegt, wirft er einen Blick über die Schulter: Der Hund ist verschwunden.

Essen
    Er läuft den ganzen Vormittag. In der Tasche achtundfünfzig Cent. Er kommt an mehreren Supermärkten und kleinen Selbstbedienungsläden vorbei: Überall haben sich schon ein, zwei oder drei Obdachlose niedergelassen, einige davon zu zweit oder in Begleitung eines Hundes. Das Gleiche vor den Cafés mit Zigarettenverkauf, den Metroeingängen, den Kinos, den Kirchen, den Kaufhäusern, in den Fußgängerzonen oder belebten Straßen. Überall ist schon jemand.
    Um 14 Uhr hat er immer noch keinen Ort gefunden, an dem er sich postieren könnte. Er schlingt sich den Pullover um die Taille und klemmt sich den Blouson unter den Arm. Während er weiter die Stadt durchstreift, beginnt er, Passanten direkt anzusprechen.
    »Entschuldigen Sie, Madame, ich brauche noch einen Euro, um etwas essen zu können … Entschuldigen Sie, Monsieur …«
    Stumpfe Blicke, Kopfschütteln, hochgezogene Augenbrauen, gereizte Seufzer, Murren, Hände wie zu einer unsichtbaren Mauer erhoben.
    Vier Stunden später beläuft sich seine Ausbeute auf nicht mehr als drei Euro und zwanzig Cent, was seine Rücklage auf drei Euro achtundsiebzig erhöht.

Trinken
    Von Zeit zu Zeit betritt er ein Café und stellt sich an den Tresen.
    »Ja?«
    »Ein Glas Wasser, ist das möglich?«
    »Sie müssen erst was bestellen.«
    Er sieht, wie viel ein Kaffee kostet: einen Euro zehn. Er geht. Im besten Fall unbeachtet, im schlimmsten mit einer unfreundlichen Bemerkung im Genick.
    Später, in einem anderen Stadtteil, versucht er es wieder. Es mag vorkommen, dass man ihm zu trinken gibt, aber im Wesentlichen ist die Reaktion immer die gleiche:
    »Wir sind doch hier kein öffentlicher Wasserausschank.«
    »Tut mir leid.«
    »Verziehen Sie sich.«
    Es sei denn, die Antwort ist nur ein Blick, der sich abwendet.

Würde bewahren
    Die Bereitschaft, ihm ein Glas Wasser zu geben, schließt nicht ein, dass man ihn auch zur Toilette gehen lässt. Manche drücken ein

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