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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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Auge zu. Darunter die Besitzer der Lokale, in denen man ein Zwanzig- oder Fünfzig-Cent-Stück einwerfen muss, um die Tür zu öffnen.
    Was also bleibt, sind Hauswände, Ecken und Winkel, um Wasser zu lassen. Und bestenfalls – wenn sie kostenlos sind – die öffentlichen Toiletten, um seine Notdurft zu verrichten.

Ernüchtertes Zwischenspiel
    Um kurz vor 18 Uhr entzieht er sich mit seinen drei Euro achtundsiebzig dem Strom der Passanten und nimmt auf einer Bank Platz. Er ist in Schweiß gebadet. Ins gleißende Licht der Junisonne legt sich das Rot des ausklingenden Nachmittags. Der Asphalt gibt einen Teil der Wärme wieder ab, die er im Lauf des Tages gespeichert hat. Es ist jetzt noch wärmer.
    Lange massiert er sich den unteren Teil des Rückens, verzieht dabei immer wieder vor Schmerz das Gesicht. Dann nimmt er sein Handy, wählt seine frühere Nummer und aktiviert die Mute-Funktion, die es erlaubt zu sprechen, ohne am anderen Ende gehört zu werden. Nach zweimaligem Klingeln geht seine Tochter an den Apparat.
    »Hallo? …«
    »Ich bin’s, meine kleine Prinzessin, hier ist Papa …«
    »Hallo? …«
    »Weißt du, ich denke an dich …«
    Im Hintergrund hört man Sandrines Stimme.
    »Wer ist es denn?«
    »Ich weiß nicht, ich höre gar nichts …«
    Die Schritte seiner Ex-Frau kommen näher.
    »Vergiss nicht, wie sehr ich dich lieb habe …«
    Die Mutter steht hinter ihrer Tochter.
    »Gib mal her …«
    »Tschüs …«
    »Tschüs, meine kleine Prinzessin …«
    Sandrine nimmt das Telefon.
    »Hallo? … Hallo? …«
    Sie legt auf. Er bleibt sitzen und betrachtet das sonntägliche Treiben der Menschen.
    Seine Lider schließen sich in regelmäßigen Abständen. Immer wieder sinkt ihm das Kinn auf die Brust. Jedes Mal richtet er sich rasch auf und blinzelt mehrmals, doch nach kurzer Zeit sackt er wieder in sich zusammen.
    Er legt sich hin und klemmt Blouson und Pullover zusammengerollt fest unter seinen Kopf.
    Er schläft ein.

Gehen
    Als er aufwacht, breitet der Abend schon längst seine Schatten über die Stadt. Er schluckt, sieht auf seine Armbanduhr: Es ist fast acht.
    Der Bürgersteig ist nur noch schwach belebt. Viele Menschen sind schon heimgegangen. Sie nutzen die letzten erholsamen Stunden, ehe wieder eine Woche beginnt.
    Er steht auf, zieht den Pullover an und streift mit dem Blouson unter dem Arm weiter durch die Straßen. Vor der Einbuchtung einer Garage bleibt er stehen, blickt nach links, dann nach rechts, pinkelt und setzt, als gerade ein Auto in die Straße einbiegt, seinen Weg fort.
    Die Terrassen sind noch voll. Die Innenräume der Restaurants und Brasserien auch. Es wird getrunken, gegessen, geredet, gestritten und gelacht. Wo er auch hinkommt, tummeln sich Konsum und überschäumendes Leben, das ihm an die Gurgel springt. Hin und wieder bittet er einen Passanten um einen Euro oder zwei. Vergebens.
    Gegen 22 Uhr kauft er sich einen Kebab – drei Euro und fünfzig Cent. Er vertilgt ihn mit dem Rücken an einen Springbrunnen gelehnt. Als er fertig ist, löscht er am Brunnen seinen Durst, reibt sich mit dem Wasser durchs Haar und durchs Gesicht. Dann setzt er seine ziellose Wanderungfort. Wieder bittet er Passanten um ein Almosen. Wieder vergeblich.
    Nur ein junges Mädchen drückt ihm ein Zwei-Euro-Stück und eine Zigarette in die Hand, die er sofort raucht. Ansonsten bekommt er nichts.
    Er geht. Im Lauf seiner Wanderung begegnet er jeder Menge Obdachloser. Einige haben sich zu regelrechten Camps zusammengeschlossen: Zelte, Schlafsäcke, Gaskocher und sogar Klappstühle. Da wird laut gesprochen, da wird geschrien, da wird gebrüllt. Doch die meisten, die ihm über den Weg laufen, sind allein oder nur in Begleitung eines Hundes. Fast alle trinken billigen Wein, der die Magenwände zerfrisst, und sind betrunken.
    Er geht. In einer ruhigen, dunklen Straße stößt er an einer finsteren Hausecke auf einen Obdachlosen, der gerade seine Notdurft verrichtet. Über die Entfernung von einigen Metern hinweg verbreitet er einen beklemmenden Gestank, eine Mischung aus geronnenem Achselschweiß und besudeltem Hosenschritt, dazu das Geräusch seiner feuchten Darmwinde, die Ausdünstungen seiner durch gepanschten Wein und Parasiten angegriffenen Darmflora, die als flüssiger Kot auf den Bürgersteig läuft, auf seine Schuhe spritzt und auf die bis zu den Knöcheln heruntergerutschte Hose.
    Er bleibt nicht stehen. Er geht weiter, immer weiter.

Schlafen
    Paris schläft nie. Es gibt keine Straße, die nur

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