Ein Winter mit Baudelaire
an. Er nimmt sie.
»Bist du neu hier? Wie heißt du?«
»Philippe.«
»Gérard.«
Sie geben sich die Hand.
»Seit wann?«
»Vor einem Monat hat mich meine Frau vor die Tür gesetzt.Seit zwei Tagen bin ich richtig auf der Straße. Und du?«
»Drei Jahre, zwei Monate und siebzehn Tage.«
Philippe starrt ihn entgeistert an.
»Ich zähle mit, um nicht zu vergessen, dass es vorher ein anderes Leben gab und danach auch noch ein anderes geben kann. Das Zeitgefühl ist das Erste, was man auf der Straße verliert.«
»Stimmt. Mir kommt es vor, als wären es schon Jahre.«
»Deshalb bin ich auch noch nicht verrückt geworden. Und weil ich nicht trinke. Wenn du trinkst, bist du erledigt. Dann geht alles den Bach runter. Dein Körper, dein Kopf. Da kommst du nicht mehr raus.«
Schweigend rauchen die beiden weiter.
»Weißt du eigentlich, wie das hier läuft?«
Erstaunt sieht Philippe ihn an.
»Es gibt zwar kein Gesetz«, fährt Gérard fort, »aber Regeln. Nicht in einen Wagen steigen, in dem schon jemand arbeitet. Die alten Hasen auf der Linie im Auge behalten. Die Plätze sind umkämpft. Das Gleiche beim Schlafen: immer aufpassen, dass da nicht schon jemand sein Revier hat.«
Gérard zieht an seiner Zigarette und drückt sie aus.
»Ansonsten weißt du, wie du zurechtkommst?«
»In den Tag hinein leben.«
»Ja, klar, aber was ist mit dem Essen? Im Winter?«
»Nein, weiß ich eigentlich nicht.«
Gérard holt einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Tasche.
»Ich geb dir drei Adressen, wo ich hingehe. Die 115 rufst du an, um nach Obdachlosenheimen zu fragen … Aber ein Tipp: Mach einen Bogen um das CHAPSA in Nanterre …«
»Warum?«
»Das ist das Ende … Ansonsten«, fährt Gérard fort, »gibt es noch die Volksküche in Montorgueil, die Tafel in der Rue de l’Ave-Maria, Emmaus und für Klamotten die Caritas …«
»Scheiße!«
Philippe springt auf und drückt seine Zigarette aus.
»Was?«
»Mein Koffer!«
»Dein Koffer?«
»Der ist in einem Schließfach in Montparnasse …«
Er sieht auf die Uhr.
»Mist, ich bin über der Zeit!«
Er hetzt los.
»He!«
Er dreht sich um. Gérard reißt die Seite aus seinem Notizblock und gibt sie ihm.
»Nimmt die 4, da musst du nicht umsteigen.«
»Danke.«
Er biegt in einen Gang ein und läuft los.
Wer zu spät kommt …
In langsam ruckelndem Tempo klappert die Metro der Linie 4 die noch verbleibenden Stationen ab. Philippe scharrt mit den Füßen, schaut immer wieder panisch auf seine Armbanduhr.
In Montparnasse springt er auf den Bahnsteig, läuft durch die Gänge, die Rolltreppen hoch und erreicht außer Atem das Schließfach, in dem er seinen Koffer und seinen Laptop zurückgelassen hat. Es ist ein paar Minuten nach 14 Uhr.
Er versucht es zu öffnen, vergeblich. Er versucht es noch einmal, wird wütend, schlägt aufgebracht gegen das Metall.
»Na, na, na!«
Er dreht sich um, vor ihm steht ein Angestellter der Bahn.
»Geht’s noch? Was machen Sie denn da?«
»Mein Koffer, ich hatte meinen Koffer da drin!«
»Ach, Sie sind das …«
»Was soll das heißen, ich bin das? Ich bin was?«
»Weil Sie Ihre Sachen nicht abgeholt haben, ist die Polizei mit einem Entschärferteam gekommen und …«
Philippe starrt ihn an.
»Wollen Sie damit sagen, dass … meine Sachen …?«
Der Bahnbeamte nickt, sein Blick wird ausweichend.
»Tut mir leid …«
Einen Moment lang mustert Philippe den Bahnangestellten durchdringend, dann schlägt er plötzlich, so fest er kann, gegen die Tür des Schließfachs und geht mit drohend erhobenem Zeigefinger auf ihn zu. Der Mann weicht zurück.
»Warten Sie, ich kann doch nichts dafür …«
Philippe hält inne. Schäumend vor Wut taxiert er den Beamten.
Dann dreht er sich auf dem Absatz um und geht.
Wiedergänger
Er tritt aus dem Bahnhof. Wieder ein herrlicher, wolkenloser Tag. Der Vorplatz ist überfüllt. Hastende Menschen, die eine Metro oder einen Zug erreichen wollen und sich in gewagtem Slalom zwischen anderen hindurchschlängeln, deren Langsamkeit sie behindert. Bummelnde Fußgänger, Touristen, die es nicht eilig haben, Teilzeitbeschäftigte, Studenten, die im Gehen eine Kleinigkeit zu Mittag essen und dabei die Sonne genießen. Und dazwischen all jene, die freiheraus der Bettelei nachgehen oder Zeitungen verkaufen, um eine Behelfsunterkunft zu finanzieren, zu essen, sauber zu bleiben.
Er geht an den Häusern entlang Richtung Rue de Rennes, biegt rechts ab, geht weiter zur Rue de la
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