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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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Gaîté und setzt sich im Schatten der Bäume auf dieselbe Bank wie am Tag zuvor.
    Er sieht sich kurz um, beugt sich vor, stützt seine Ellbogen auf die Oberschenkel und den Kopf in die Hände, während sein Körper unmerklich vor- und zurückwippt.
    Plötzlich erschrickt er und schaut auf: Direkt vor ihm, mit geschlossener Schnauze und aufgerichteten Ohren, sitzt leise jaulend der Hund vom Vortag und sieht ihn unverwandt an.
    Einen Moment lang erwidert Philippe seinen Blick, dann senkt er den Kopf und fängt wieder an, sachte mit dem Oberkörper zu wippen. Mehrmals hebt der Hund sein Hinterteil einige Zentimeter an und kommt leise winselnd auf ihn zugerutscht. Als er nah genug ist, versucht er, mit der Schnauze Philippes Arm anzuheben, und leckt ihm vorsichtig die Hände und das Gesicht.
    Gereizt fährt Philippe hoch.
    »Lass mich in Ruhe, verdammt noch mal!«
    Er steht auf.
    »Scheiße! Merkst du denn nicht, dass es jetzt nicht passt!«
    Er geht los. Der Hund folgt ihm wie eine Klette, wenn auch in einigen Metern Abstand.
    Philippe bleibt stehen, dreht sich um: Der Hund bleibt ebenfalls stehen und setzt sich. Philippe geht weiter, wirft nochmals einen Blick über die Schulter. Wieder das Gleiche.
    Suchend sieht er sich um, marschiert zu einem Mülleimer, fischt eine leere Getränkedose heraus und schleudert sie mit aller Kraft in die Richtung des Hundes. Der kann gerade noch ausweichen und nimmt mit angelegten Ohren Reißaus, um in sicherer Entfernung wieder stehen zu bleiben und sich zu setzen.
    Mit wutverzerrtem Gesicht reißt Philippe wahllos Dinge aus dem Mülleimer, um sie dem Hund entgegenzuschleudern, während er drohend auf ihn zugeht.
    »Hau ab! Hau ab!«
    Mit eingezogenem Genick und hängenden Ohren läuft der Hund davon, macht sich sang- und klanglos aus dem Staub.
    Lange späht Philippe noch in seine Richtung, dann dreht er sich um und setzt seinen Weg fort.
    Als er in eine Seitenstraße einbiegt, kann er den Hund nicht mehr sehen. Der ist inzwischen zu der Bank zurückgekehrt, von wo er ihn mit aufgerichteten Ohren leise winselnd beobachtet.

Morgen ist so wie gestern
    Die Zukunft wird in der Gegenwart gelebt. Einer Gegenwart, die sich nicht beugen lässt. Oder wenn, dann nur im Infinitiv, der Form des Unbestimmten. Weil heute so ist wie gestern und morgen so wie heute.
    Essen. Schlafen. Trinken. Sauber bleiben. Emmaus. Betteln. Auf den Titelseiten der Zeitungen das Datum lesen. An Claire denken.
    Gehen. Waschsalon. Schlafen. Wasser lassen. Die Tage zählen. Essen. Tafel.
    Kleidung finden. Caritas. Gehen. Notdurft verrichten. Betteln.
    Würde bewahren. Nicht verrückt werden. Wasser lassen. Die Tage zählen.
    Trinken. Waschsalon. Betteln. An Claire denken. Schlafen. Sich waschen. Auf den Titelseiten der Zeitungen das Datum lesen.
    Schlafen. Sauber bleiben. Notdurft verrichten. Nicht sterben. Neue Schuhe besorgen.
    Würde bewahren. Betteln. Nicht aufgeben. Essen. Trinken. Schlafen. Am Leben bleiben. An Claire denken. Leben. Überleben.

Die junge Frau auf der Parkbank
    Erste Augusthälfte. Paris ist nicht mehr so überfüllt, nicht mehr so hektisch. Die Hupen klingen weniger aggressiv. Der Verkehr fließt besser, verhaltener. Die Terrassen der Cafés sind spärlicher besetzt als sonst. Die Kellner knallen den Gästen den Kaffee und das Glas Wasser weniger rabiat auf den Tisch. Obwohl es manchmal drückend heiß ist, atmet die Stadt besser.
    Nachmittags geht er häufig in einen schattigen kleinen Park in der Nähe des Invalidendoms. Eines Tages sitzt um die Mittagszeit eine junge Frau um die dreißig, vielleicht etwas jünger, auf der Bank, auf der er sich gewöhnlich niederlässt. Sie isst ein Sandwich und liest dabei in einem Buch. Sie hat ein sanftes, offenes Gesicht. Er tritt näher.
    »Entschuldigung … Guten Tag …«
    »Guten Tag …«
    »Stört es Sie, wenn ich mich dazusetze?«
    Ein Anflug des Erschreckens flackert in den Augen der jungen Frau.
    »Machen Sie sich keine Sorgen«, fügt er rasch hinzu. »Ich bin ganz leise und störe Sie nicht beim Lesen …«
    Unauffällig sieht sie sich um. In dem Park sind noch andere Menschen. Sie zieht ihre Tasche zu sich heran.
    »Danke …«
    Er setzt sich. Er stützt die Ellbogen auf die Rückenlehne der Bank, atmet die kühle, schattige Luft.
    Über die Zeilen ihres Buches hinweg wirft sie ihm verstohlen einen kurzen Blick zu.
    Als sie nach einer Weile wieder in ihr Sandwich beißen will, besinnt sie sich anders und bricht das Schweigen.
    »Möchten Sie

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