Ein Winter mit Baudelaire
knallen.
Überall künden großflächige Werbeplakate von der baldigen Rückkehr der kalten Jahreszeit: »Mit kleinen Preisen ab in den Herbst!« Abgesänge auf Sommer und Ferien, die langsam Abschied nehmen, um allmählich im Schwarz-Weiß der Erinnerung zu versinken. Während es tagsüber häufig noch warm ist, brechen die Abende und Nächte nun schneller herein. Nachmittags herrscht, was die Kleidung betrifft, in den Straßen noch Leichtigkeit, aber wenn der fahlgelbe Schimmer des Tages erlischt, entfalten sich auf den Schultern Pullover und an den Hälsen Tücher wie Mistelzweigean Bäumen. Unter dem rötlichen Gold, in das sich die Dunkelheit erst noch hüllt, sind schon die ersten schneidenden Bisse des Winters zu spüren.
Philippe geht zwischen geschäftigen Passanten dahin. Er trägt einen mehrere Monate alten Bart, der so wirr ist wie seine Kleidung. Bei jedem Schritt fallen ihm die flachsblonden, etwas fettigen Haare über die leichte Stirnglatze in die Augen. An der Schulter trägt er eine schlauchartige Tasche aus abgewetztem Jutestoff, abgewetzt vom körnigen, rauen Asphalt der Bürgersteige. Darin befinden sich, auf verschiedene Plastiktüten verteilt, die Bestandteile seines Lebens: Kleidung, die saubere und schmutzige ordentlich voneinander getrennt und sortiert – Unterhosen, Strümpfe, T-Shirts, Pullover, Sachen von Emmaus, der Caritas und anderswoher –, Deodorant, das er nach seinen beiden wöchentlichen Duschen benutzt, ein Handy, nutzlos, seit sein Abonnement gesperrt wurde, ein Schlafsack und einige zerstückelte Kartons, sorgsam gefaltet oder eingerollt.
Es ist 15 Uhr, Freitagnachmittag. Der Tag bleibt mild, wenn auch ein zarter Schleier darüberliegt. An sonnengebräunten, entblößten Frauenschultern hängen teure Designer-Taschen. Die Männer haben die Hände in die Hosentaschen geschoben, die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, die Jacken lässig über den Schultern. Die Wettervorhersagen fürs Wochenende geben sich optimistisch.
In seiner Aufmachung durchquert er die Menge. Die Blicke gehen durch ihn hindurch, als wäre er unsichtbar. Keiner dieser Menschen bemerkt, wie er sich zwischen ihnen durchschlängelt. Und keiner sieht, wie er ohne Fahrkarte in einen Zug steigt.
Nur ein Schatten an einer Wand
Der elektronische Gong, der den Unterrichtsschluss und das Wochenende ankündigt, hallt bis zum Gehweg, wo die Eltern auf ihre fröhlichen Sprösslinge warten. Minuten später gellen Schreie und helles Gelächter aus den Gängen, ehe die Kleinen in einem lärmenden Gewimmel aus Blondschöpfen, Rattenschwänzen, braunen Zöpfen, gesmokten Röcken und bunten Bermudashorts auf die Straße stürmen.
In dem ausgelassenen Tumult fällt niemandem auf, dass an der gegenüberliegenden Straßenecke, im Schatten einer Garageneinfahrt, ein Mann mit einer Umhängetasche steht. Es sieht auch niemand, wie seine Augen aufleuchten, als er ein kleines Mädchen mit weißem Haarband in einem Kleid mit marineblauen Volants entdeckt, das zusätzlich zu dem riesigen, auf den Rücken geschnallten Schulranzen ein großes bebildertes Märchenbuch in den Armen hält.
Philippe beobachtet, wie Claire sich von ihren Freundinnen verabschiedet und zu Sandrine geht, die von einem Mann um die vierzig begleitet wird, zwangloser Schick mit Sonnenbrille. Als Claire ihn sieht, verlangsamt sie unmerklich ihren Schritt, dann geht sie in normalem Tempo weiter auf die beiden zu.
Sie gibt ihrer Mutter einen Kuss. Dann weicht sie ein wenig zurück, und ihr Blick wandert zwischen Sandrine und dem Mann hin und her, das Buch fest an ihre Brust gedrückt.
»Sagst du Laurent nicht Hallo?«
»Hallo, Laurent …«
»Hallo, hübsche Fee!«
»Ich bin keine Fee, ich bin eine Prinzessin!«
Laurent hockt sich nieder.
»Gibst du mir ein Küsschen?«
Claire geht zu ihm und gibt ihm mit zu Boden geschlagenem Blick und spitzem Mündchen einen Kuss auf die Wange.
»Laurent fährt übers Wochenende mit uns zu Großmama und Großpapa, das ist doch toll, oder?«
Claire nickt mechanisch.
»Du wirst sehen, wir drei werden viel Spaß haben …« Ein ungewisses Schweigen legt sich über die Gruppe.
»Okay, gehen wir?«
»Ihr Wunsch sei mir Befehl, Madame …«
Laurent wendet sich an Claire.
»Mademoiselle … Soll ich dir das abnehmen?«, fragt er und streckt die Hand nach ihrem Buch aus.
Sie weigert sich. Ihre Mutter sieht sie streng an.
»Claire, sei nicht albern.«
Die Kleine weicht zurück und drückt das Buch
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