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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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noch fester an sich. Im Schatten der Garageneinfahrt huscht ein Lächeln über Philippes Gesicht.
    Laurent wendet sich fragend an Sandrine. Sie zuckt mit den Schultern und geht los. Claire folgt ihnen mit mehreren Metern Abstand.
    Als ihr Blick zufällig zur anderen Straßenseite schweift,verharrt er auf dem Schatten, in dem sich Philippes Silhouette abzeichnet. Sie bleibt stehen, kneift die Augen zusammen.
    Sandrine dreht sich zu ihr um.
    »Was ist denn, Claire?«
    Claire fixiert ihre Mutter, dann kehrt ihr Blick zu der Stelle zurück, an der ihr Vater stand.
    Sandrine kommt auf ihre Tochter zu.
    »Was gibt’s denn noch?«
    Claire deutet mit dem Zeigefinger auf den gegenüberliegenden Bürgersteig und das Garagentor. Sandrine starrt mit gerunzelter Stirn in die angezeigte Richtung.
    »Hast du da etwas gesehen?«
    »Da war jemand …«
    Sandrine wirft noch einen prüfenden Blick auf die Garageneinfahrt. Da sie niemanden sieht, nimmt sie ihre Tochter an der Hand und zieht sie hinter sich her.
    »Das war nichts, mein Schatz, nur ein Schatten an einer Wand …«

Weihnachtslichter
    Die Straßen sind erleuchtet. Sie haben ihre diamantenen Kleider angelegt. In der Nacht funkeln die Bäume der Champs-Élysées strahlender als die Milchstraße am Himmel. In den Schaufenstern spiegeln sich tausend Versprechungen und tausend Überraschungen. Trotz Finanzkrise wimmelt es in den Warenhäusern wie in überfüllten Bienenstöcken, und an den Kassen bilden sich Staus wie vor den Mautstationen im Reisemonat August. Die EC-Karten summen knisternd ihre sanfte Liturgie und lassen Traumpailletten auf die Wimpern der Kinder rieseln. In den Straßen defilieren von morgens bis abends Mäntel, Blousons, Schals, Handschuhe, Mützen. Überall Taschen, Tüten, Geschenkpakete, eins schillernder als das andere – rote, blaue, lila, grüne, gelbe, silberne, goldene –, mit Sternen, Planeten, Schneemännern, Schlitten oder Weihnachtsbäumen bedeckt. Allüberall erstrahlen die Weihnachtslichter in vollem Glanz.
    Die Nacht bricht früh an. Schon um 16 Uhr senkt sich langsam die Dunkelheit über die Stadt. Und mit ihr die Kälte. Schwer, durchdringend, schneidend. Auch am Nachmittag bleiben die Temperaturen niedrig. Selbst wenn die Sonne scheint, wird es nicht warm.
    Sobald die Schatten länger werden, hüllen sich die Passanten warm ein, vermummen sich, gehen schneller. Sie kommen aus einem Geschäft, um rasch ein anderes zu betreten, um sich in der vorläufigen Wärme eines Cafés oder einer Metrostation oder eines Autos und dann endlich bei sich zu Hause im Warmen, hinter verschlossenen Türen zusammenzukuscheln.
    Er selbst setzt seine Wanderung fort. Gehen, um nicht zu Eis zu erstarren. Gehen, um einen Ort zu finden, an dem man die nächste Nacht verbringen kann. Gehen, um die Kälte zu bannen.
    Mit dem Dämmerlicht beginnt für ihn der eigentliche Tag. Erst das Halbdunkel, das sich über die Stadt legt, gibt ihm die Möglichkeit, sich in die warmen Abteilungen eines Monoprix, eines Super U oder anderen Geschäfts zu schleichen. Versteckspiel mit den Türstehern, Fluchten oder gewaltsame Rausschmisse.
    Dann gehen die Türen zu. Nur die Schaufenster verharren in Pose, wie eingefroren in ihrer fahlen, eisigen Pracht. Was also bleibt, sind die Notunterkünfte, die seit dem 1. November wieder geöffnet sind, sofern man dort einen Platz findet. Ansonsten bis ein Uhr morgens die Metro. Und dann – es sei denn, man schafft es, sich einschließen zu lassen – die Straße, die Nacht. Und dort vielleicht mit etwas Glück die Wärme eines noch nicht besetzten Belüftungsschachts.
    Vor ein paar Tagen wurden die ersten Minustemperaturen gemessen. Die sozialen Notdienste stoßen an ihre Grenzen. Seit Monatsanfang ist Stufe 1 des winterlichen Hilfsprogramms für Obdachlose in Kraft. Damit Stufe 2 ausgerufen wird, muss es allerdings noch ein paar Grade kälter werden: Minustemperaturen am Tag und in der Nacht Kältegrade zwischen –5 °C und –10 °C. Bisher schwanken die Temperaturenam Tag zwischen +2 °C und +4 °C, und auch in der Nacht sinkt das Thermometer nicht unter –3 °C. Es gibt tatsächlich keine richtigen Jahreszeiten mehr. Die Experten führen den Klimawandel ins Feld. Sie rechnen damit, dass die kommenden Monate ungewöhnlich kalt werden.
    Anfang Dezember. Der Winter hat gerade erst angefangen.

Notruf
    Seit fast zwei Stunden läuft er ohne Unterlass. Seine Schritte sind langsam, erschöpft. Alle Belüftungsschächte werden

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