Ein Winter mit Baudelaire
auch ein Stück?«
Er sieht sie an.
»Ich habe schon gegessen, danke …«
Beide lächeln.
»Sind Sie sicher?«, beharrt sie und hält ihm das Sandwich hin.
»Bin ich, danke.«
Sie beißt hinein.
»Was lesen Sie da?«
Sie klappt das Buch zu und zeigt ihm den Einband.
»Entschuldigung, ich hatte gesagt, dass ich Sie nicht stören würde …«
»Es ist der erste Roman von Yaël Hirsch, Psalmodien , die Geschichte einer jungen Frau, der die Erinnerung an die Shoah und die damit verbundene Schuld keine Ruhe lässt.«
»Ist er denn gut?«
»Sehr traurig und sehr hart, aber er gefällt mir. Der Stil ist nüchtern und messerscharf.«
»Sie scheinen sich mit Büchern auszukennen.«
»Ich mache ein Praktikum bei GLM, das ist nur ein paar Straßen weiter …«
»Verzeihen Sie, aber … was ist das, GLM ?«
Sie erklärt ihm das Prinzip dieses Buchclubs, für dessen Katalog sie im Rahmen ihres Praktikums Artikel schreibt, in denen die Bücher vorgestellt werden. Sie führen das Gesprächfort. Sie erzählt, dass sie mehrere Jahre als Regieassistentin bei Fernseh- und Kinoproduktionen gearbeitet hat. Irgendwann konnte sie das Milieu der Filmbranche nicht mehr ertragen und schrieb sich an der Uni ein, um auf diesem Weg an Praktika zu kommen und in die Verlagsbranche zu wechseln. Seit September ist dies ihr drittes, und sie hofft, dass ein befristeter Arbeitsvertrag daraus wird, denn die kümmerlichen Ersparnisse aus ihrem früheren Leben sind schon längst aufgebraucht.
»Das ist mutig von Ihnen, noch einmal ganz von vorn anzufangen ….«
»Und Sie?«
Sie nimmt sich eine Zigarette, bietet auch ihm eine an. Er greift zu, und dann erzählt er ihr alles: seine gescheiterte Ehe, seine Tochter, wie ihn seine Ex-Frau vor die Tür gesetzt hat, seine Höllenfahrt, sein täglicher Kampf, um nicht noch tiefer zu sinken, die Abwärtsspirale des Lebens auf der Straße, die Scham.
»Das dachte ich mir«, sagt sie, als er fertig ist.
»Wie …?«
Er führt seinen Satz nicht zu Ende.
»Ihre zusammengewürfelte Kleidung, die Hose zu weit, das Polohemd zu klein … Und dann die Art, wie Sie sich umsehen, als wären Sie ständig auf der Lauer …«
Die beiden sehen sich an. Betretenes Schweigen. Die junge Frau schiebt ihr Buch in die Tasche und steht auf.
»Sie gehen?«
»Meine Pause ist zu Ende …«
»Kommen Sie mittags häufiger hierher?«
»Das war heute das erste Mal.«
»Ich komme jeden Tag, um mich ein bisschen abzukühlen.«
»Dann also bis bald?«
»Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Sie geht los.
»Ach, übrigens …«
Sie dreht sich um.
»Ich heiße Philippe …«
»Claire.«
Das Lächeln, das sich über Philippes Gesicht breitet, ist ehrlich und vollkommen spontan.
»Der Vorname meiner Tochter …«
Claire lächelt zurück und verlässt den schattigen, begrünten Platz.
Sie kommt nicht wieder, weder am nächsten noch an den darauffolgenden Tagen.
Gestern wird wieder morgen sein
Alles geht weiter und beginnt unaufhörlich wieder von vorn, anders und doch vollkommen gleich.
Betteln. Schlafen. Sich waschen. Das Datum auf den Zeitungen. Notdurft verrichten. Essen. Trinken. Schlafen. Sauber bleiben. An Claire denken. Nicht verrecken.
Pennen. Waschsalon. Essen. Pinkeln. Die Tage zählen.
Trinken. Pullover und Schuhe besorgen. Caritas.
Gehen, um sich aufzuwärmen. Kacken. Schnorren. Würde bewahren. Nicht durchdrehen. Die Tage zählen. Neue Hose besorgen. An Claire denken. Wasser lassen. Essen.
Sauber bleiben. Emmaus. Betteln. Das Datum auf den Zeitungen. Kacken. Gehen. Pinkeln. Pennen. An Claire denken. Würde bewahren.
Nicht aufgeben. Pennen. Essen. Nicht einsam und elendig verrecken.
Gestern ist so wie heute und morgen so wie gestern. Zukunft und Vergangenheit zerfallen, dem Tode geweiht in einer Gegenwart, die kein Ende hat.
Oh, happy days!
Die Stadt erwacht aus ihrer sommerlichen Lethargie. Die Straßen füllen sich, die Boulevards stellen sich wieder zur Schau. In der Woche vor Septemberbeginn schlägt das Herz der Hauptstadt schon fast wieder so wild wie zuvor. Durch die großen Verkehrsadern strömen stockend die Autoschlangen. Das Stadtleben kommt wieder in Gang, mit allem, was das an Stress und schlechter Laune mit sich bringt. Die Hupen klingen wieder hart und aggressiv. Bei jedem Sonnenstrahl, der die schöne Jahreszeit verlängert, werden die Caféterrassen gestürmt, und die Kellner gehen wieder dazu über, den Gästen den Kaffee und das Glas Wasser vor die Nase zu
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