Ein Winter mit Baudelaire
schon von einem oder mehreren Menschen okkupiert. Die brauchbaren Ecken und Eingänge ebenfalls. Hin und wieder bleibt er stehen, schließt die Augen, und sein Körper beginnt unmerklich zu wanken. Das Wanken wird stärker, bis er kurz vor dem Umkippen zusammenzuckt und sich in letzter Sekunde fängt. Er rückt seine Tasche zurecht, holt tief Luft, zieht den Kopf ein, die Schultern hoch und setzt seinen Weg fort.
Später geht er quer über einen Platz, auf dem eine der seltenen Telefonkabinen steht, die das Aufkommen des Handys überlebt haben. Er will weiter, um die gegenüberliegende Straße zu erreichen, aber dann blickt er sich um und macht kehrt. Er betritt die Kabine, nimmt den Hörer, wählt die 115, den Obdachlosennotruf. Nach zweimaligem Klingeln wird abgehoben.
»Hallo …«, stammelt er in den Hörer.
Ein Tonband springt an und teilt ihm mit, dass seine Wartezeit achtzehn Minuten nicht überschreiten wird. Zunächst hält er sich den Hörer weiter ans Ohr, dann legt er abrupt auf und schlägt mit aller Kraft auf die Metallverschalung des Telefons ein.
Nach und nach werden seine Schläge langsamer und verlieren an Kraft, bis sie schließlich ganz erlahmen. Seine Hände zittern. Er greift wieder nach dem Hörer und wählt dieselbe Nummer. Wieder zwei Klingeltöne, dann dieselbe Nachricht, aber jetzt nur noch vierzehn Minuten Wartezeit. Er seufzt, lehnt sich an die Glaswand der Kabine und legt den Kopf in den Nacken. Schließlich meldet sich am anderen Ende eine menschliche Stimme.
»Obdachlosennotruf, guten Abend …«
»Die Notunterkunft … wo ist das?«
»Entschuldigen Sie, aber können Sie mir erst sagen, wo Sie sich gerade befinden?«
Er nennt den Ort.
»Bleiben Sie dran, ich schaue nach, ob es in den umliegenden Zentren noch freie Plätze gibt und ob in Ihrer Gegend ein Wagen unterwegs ist …«
Wieder eine Stimme vom Band, die um Geduld bittet. Nach einigen Minuten: »Tut mir leid, es gibt nur noch Plätze im CHAPSA in Nanterre. Aber unsere innerstädtischen Busse sind alle überfüllt, Sie müssen selbst zur Porte de la Villette fahren. Mit der Metro ist das von dort, wo Sie jetzt sind, nicht weit …«
Er legt auf. Wie gelähmt steht er da, bis er endlich seine Tasche aufhebt und die Kabine verlässt.
Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig der Kreis mit dem gelben M – die Metro.
Obdachlosenbrigade
Er tritt aus der Metrostation und starrt suchend in die Nacht. Er kneift die Augen zusammen, sein Blick schweift durch die Dunkelheit, bis er einen »Blauen« entdeckt, einen Polizisten der Obdachlosenbrigade. Einige Meter hinter dem Mann stehen schwankende, gestaltlose Silhouetten, grau wie der Asphalt und die Häuser in diesem Stadtteil.
Er geht hin, stellt sich dazu. Alle halten Abstand zueinander, ob einzeln oder in kleinen Zweier- und Dreiergrüppchen. Es sind etwa zehn, ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Drei von ihnen sind Russen, die sich erregt unterhalten. Sie sind nicht älter als dreißig, sauber und gut gekleidet: Jeans oder Stoffhose, Hemd, Pullover, Leder-Blouson, Schal, Handschuhe, Turnschuhe. Vier Männer mit alterslosen, zerfurchten Gesichtern reichen eine Plastik-Weinflasche herum, rauchen selbst gedrehte Zigaretten und tauschen deformierte Wortfetzen aus. Ihre Bekleidung ist ein Sammelsurium aus alten Klamotten, die nicht zusammenpassen und auf anarchische Weise übereinandergeschichtet sind. Die Gruppe verströmt einen Geruch nach kaltem Rauch, umgeschlagenem Wein, verklebtem Schweiß, getrocknetem Urin und Exkrementen, der sich, je nachdem wie der Wind steht, mehr oder weniger penetrant aufdrängt. Etwasabseits ein Pärchen um die zwanzig, struppige Haare, eng umschlungen, komplett tätowiert und gepierct. Und schließlich noch eine einzelne Frau um die fünfundzwanzig, entkräftet und ausgezehrt, weite Pupillen in glasigen Augen.
Als er dazukommt, wird er reihum von der Seite anvisiert, dann gleiten die Blicke mit der Gleichgültigkeit jener, denen die Straße alle Illusionen geraubt hat, an ihm ab. Er rückt seine Umhängetasche zurecht, steckt die Hände tief in die Taschen seines Blousons, zieht das Kinn ein und wartet.
Einer der vier Saufbrüder schlurft hinter seinem Rücken an ihm vorbei, um schwankend an eine Wand zu pinkeln. Als er sein Werk vollendet hat, kommt er auf ihn zu. Mit seiner roten Hose, dem langen grauen Wollmantel und der Bommelmütze hat er etwas von einem grotesken, traurigen Clown.
»Bist du ’n Neuer?«
Seine Stimme klingt rau,
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