Ein Winter mit Baudelaire
Masse, wogend und tosend wie ein Ozean. Man drängelt, man schimpft, man beleidigt sich.
Über anderthalb Stunden lang erklimmen sie nacheinander den Bus, aufgerufen nach ihren Geburtsdaten. Die Russen halten sich gewaltsam jeden vom Hals, dessen Ausdünstungen von zu vielen Jahren auf dem Asphalt zeugen. Einer der Zugestiegenen weigert sich, weiter hinten nach einem Platz zu suchen. Die Stimmen werden laut. Geschubse, Beleidigungen, Drohungen in zwei Sprachen, die gegeneinanderprallen, Wortgefechte und aufs Geratewohl die ersten Schläge, bis der Moskauer sein Messer zieht und es dem Widerspenstigen fest an die Gurgel drückt. Die Polizisten sind so damit beschäftigt, die zänkische Menge am Einsteigen zu hindern, dass sie den Vorfall nicht bemerken. Eingreifen könnten sie ohnehin nicht, ohne einen Aufstand zu riskieren oder von der Menge überrollt zu werden. Nach einer Weile legt sich die Aufregung wieder. Der Mann geht schwankend und leise fluchend weiter, Russen-Ärsche!, verfickte Russkis!, Immigrantenpack!
Ein anderer trauriger Asphalt-Clown mischt sich ein: »Ja, genau, nichts wie beschissener ausländischer Abschaum! … Die klaun uns alles … Arbeitsplätze … Frauen … Sozialhilfe … Sogar das Elend … Dreckiges Gesindel! Aber irgendwann … die siebte Posaune … und dann die Partei … und der Einäugige … Jean-Marie Le Pen … für Frankreich! …« Er bekreuzigt sich und beginnt zu beten, eine Litanei aus wirren, unverständlichen Worten.
In dem Maße, in dem sich der Bus füllt, steigt auch die Temperatur, und mit ihr dehnt sich der Gestank aus, verseucht die Luft mit seinen widerlichen, penetranten Ausdünstungenvon Schweiß, feuchten Schuhsohlen, nass geschwitzten Füßen, beißendem Urin, unappetitlichen Fürzen, gepanschtem Wein und kalter Asche.
Als sich die Türen schließen, obwohl auf dem eisigen Asphalt immer noch Menschen stehen, ist die Atmosphäre im Bus aufgeladen, stickig und laut. Die vier Schnapsbrüder brechen in schallendes Gelächter aus, als einem der Ihren ein bräunliches Rinnsal aus der Hose läuft und auf den Boden tropft. Das junge, weltfremde Paar hat immer noch keinen Mucks getan.
Endlich setzt sich der Bus unter den Buhrufen der auf dem frostklirrenden Bürgersteig Zurückgebliebenen ruckelnd in Bewegung und entschwindet hin zu seinem Bestimmungsort im Dunkel der Nacht.
Endstation
Die Türen öffnen sich in Nanterre an der Avenue de la République 403, und die Menschenmenge quillt aus dem Bus. Weitere Polizisten und Mitarbeiter des Obdachlosenheims nehmen die Leute in Empfang. Zwischen den beiden Lagern gehen einige spöttische Bemerkungen hin und her:
»Du schon wieder? Haste dir ’n Abo besorgt, oder wie?«
»Ein Abo, jawoll, und zwar eins für rein in deinen Arsch!«
»Los, los, Beeilung!«
Einige Männer bleiben provokant stehen und nehmen soldatische Haltung an.
»Los, schneller!«
»Ah! Nanar der Trottoir!«
» Vom Trottoir, Arschloch! Nanar vom Trottoir!«
Der Pulk schiebt sich weiter in die Innenräume, wo er auf eine ebenso bunt zusammengewürfelte Schar seltsamer Gestalten trifft, die schon früher eingetroffen sind.
Um diese Uhrzeit ist das Erdgeschoss noch einigermaßen sauber. Ein zentraler Flur führt zur Empfangstheke, den überwachten Ablagefächern und den Toiletten. Jeder erhält einen kleinen Zettel, auf den er seinen Namen schreibt.
Nun beginnt ein langwieriges Warten darauf, endlichmit ausgefülltem Formular das blaue Kärtchen in Empfang zu nehmen, auf das der eigene Name und die Nummer des zugewiesenen Bettes gedruckt ist. Im Lauf der Minuten, die sich aneinanderreihen, wird die Stimmung, wie schon auf dem Parkplatz in La Garenne-Colombes, immer auf geheizter. Es sind nur drei Mitarbeiter, alles Männer, die sich um die rund sechzig Neuankömmlinge kümmern müssen.
»Sind Sie zum ersten Mal hier?«, fragt ihn einer der drei. Er nickt schweigend. Der Mann fährt fort, den Bogen auszufüllen.
»Keine Hepatitis? Aids?«
Er schüttelt mehrmals den Kopf.
»Gut, Sie können gleich essen gehen.«
Der Mann schiebt den Kugelschreiber in die Brusttasche seines Arbeitskittels.
»Möchten Sie Ihre Sachen abgeben oder lieber behalten?«
Er betrachtet die Ablagefächer.
»Keine Sorge, die werden ständig überwacht.«
Er zuckt mit den Schultern und folgt dem Mann. Der wechselt ein paar Worte mit dem für die Sicherheit der Fächer zuständigen Kollegen.
»Wir haben ein Computer-Problem, die werden ihre Karten erst nach dem
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