Ein Winter mit Baudelaire
verräuchert vom Teer der Straße, heiser vom schlechten, wässerigen Wein.
»Nicht wirklich«, antwortet er.
»Ich bin seit zwanzig Jahren dabei, Junge, jawoll, zwanzig Jahre! Nanar heiß ich, Nanar vom Trottoir werd ich sogar genannt, jawoll!«
Sie sehen sich an, taxieren sich. Nanar vom Trottoir mustert ihn aus halb geöffneten, vom Alkohol geröteten Augen. Seine bräunliche Gesichtshaut ist so geriffelt wie die eines Männerhodens.
»Irgendwann keine Arbeit mehr …«, fährt er fort. »… keine Frau … die Eltern längst verreckt … Und hopp, das war’s dann, jawoll!«
Er zieht an seinem krummen, selbst gedrehten Zigarettenstummel und hält ihn Philippe hin. Der lehnt ab.
»Was führt dich her?«
»Meine Frau. Die hat mich rausgeschmissen.«
»Meine Schlampe auch, die hat mich auch rausgeschmissen … Jawoll, vor zwei Jahren … Alles Schlampen! … ALLES SCHLAMPEN!!!«
Seine drei Begleiter knurren etwas von geficktem Arschloch!, Schnauze!, Verpiss dich, verdammt!, und für einen kurzen Moment tauschen die vier Saufkumpanen weitere Schimpfworte aus – Wandelnde Pissbude!, Dünnschiss auf Beinen! –, dann kehrt wieder relative Ruhe ein. Der Mann bleibt in Philippes Nähe, brummelt unverständliche Dinge vor sich hin. Nachdem sie über eine Viertelstunde gewartet haben, wird Nanar schlagartig munter.
»Da, die Blauen!«
Philippe dreht sich um. Ein Bus kommt näher. In schleppendem Aufruhr suchen alle ihre Sachen zusammen.
»He, Neuer, du hast Schwein, die haben extra für dich den dicken Bus rausgeholt!«
Nanar bricht in ein schauerliches Gelächter aus, das sein durchlöchertes Gebiss entblößt, und gesellt sich zu seinen Saufgenossen.
Langsam bilden die Wartenden eine Traube vor dem ebenfalls wartenden Polizisten. Der Bus kommt zum Stehen. Zwei weitere Polizisten der Obdachlosenbrigade steigen aus und postieren sich zu beiden Seiten der Tür. Der Pulk setzt sich in Bewegung. Nach Geburtsjahren aufgerufen, steigen sie einer nach dem anderen ein. Die Russen sind trotzdem wie selbstverständlich die Ersten. Danach kommen die vier Clochards. Dann er und schließlich das junge Pärchen. Jeden von ihnen fragt ein Polizist, der hinter dem Fahrer sitzt, nach Familiennamen, Vornamen und Geburtsdatum. Als er an der Reihe ist, wühlt er in seinen Taschen.
»Nicht nötig«, unterbricht ihn der Fahrer. »Wir brauchen keine Papiere …«
Er gibt seine Personalien an. Der Polizist notiert sie. Er durchquert den Bus. Es gibt etwa sechzig Plätze. Die Russen sitzen vorn. Sie okkupieren eine ganze Bank. Einer von ihnen reinigt sich provozierend lässig mit einem Messer die Fingernägel. Ganz hinten haben sich die vier von der Straße breitgemacht. Er nimmt in der Mitte Platz, zwischen den beiden Gruppen. Das Pärchen setzt sich hinter ihn, während die beiden Blauen, die ausgestiegen waren, um sie in Empfang zu nehmen, vorn hinter einer Scheibe, die sie vom restlichen Wagen trennt, ihre Plätze einnehmen. Die Junkie-Frau ist nicht eingestiegen, sondern verschwunden.
Die Türen gehen zu. Der Bus rollt mühsam an, rumpelt über die ersten Meter, und der Transport setzt sich in Bewegung.
Im Bauch des Busses
Zu Beginn verläuft die Fahrt ohne nennenswerte Vorkommnisse. Die drei Russen reichen ein Fläschchen herum, aus dem sie tief inhalieren. Hinten im Bus macht zwischen den vier Säufern die Plastikflasche weiter die Runde. Der Gestank der Männer zieht immer penetranter durch das hermetisch abgeschlossene Businnere. Die jungen, eng umschlungenen Turteltauben rühren sich nicht. Sie scheinen gleichgültig gegenüber allem, was um sie herum geschieht, ihre Blicke verloren in den Lichtern jenseits der Fensterscheibe.
Nach mehreren Zwischenstopps sind sie jetzt dreiundzwanzig. Dazugekommen ist eine Handvoll neuer Fahrgäste, die meisten offenbar aus osteuropäischen Ländern oder dem Maghreb; bis auf zwei weitere Nanars vom Trottoir wirken sie insgesamt einigermaßen gepflegt. Zwei Russen haben sich unter kräftigen, herzlichen Umarmungen zu ihren Landsleuten gesellt. Die Atmosphäre ist etwas lebhafter geworden, die Gerüche noch durchdringender, im Großen und Ganzen bleibt es jedoch weiterhin ruhig.
Einige Kilometer vor Nanterre fährt der Bus in den Ort La Garenne-Colombes ein. Er hält an der Place de Belgique, um einen letzten Zwischenstopp zu machen. Der Parkstreifenist brechend voll. Sofort drängen sich über hundert Obdachlose in dichten Trauben vor den Türen des Busses, eine unbestimmbare
Weitere Kostenlose Bücher