Ein Winter mit Baudelaire
Essen kriegen …«
»Hast du seine Nummer?«
Der Mann schaut auf den ausgefüllten Bogen.
»217.«
Philippe stellt seine Tasche in ein leeres Fach, das mit seinem Namen und seiner Nummer beschriftet ist. Das Ganze ähnelt eher einem in Kästen unterteilten Müllabladeplatz.
»Ihre Karte geben ich Ihnen dann nach dem Essen«, sagt der Mann, während er zur Theke zurückgeht, um den Nächsten abzufertigen.
Wieder warten.
Dann ist endlich Zeit fürs Abendessen.
Die Suppe auslöffeln
Er betritt den Speisesaal, einen weitläufigen Raum, in dem große Tische aus zerkratztem, ramponiertem Resopal stehen. Die Wände sind von zahlreichen Fenstern durchbrochen, die tagsüber Licht hereinlassen. Doch nachts, im kalten Neonlicht, spiegeln sich nur die fahlen Silhouetten der Gäste darin.
Im wirren Lärm der klappernden Teller und Bestecke geht er an einen Tisch, an dem schon das junge Turteltauben-Pärchen und drei Männer um die dreißig sitzen, in Anzug und offenem Hemd. Bei zwei von ihnen stehen Laptop-Taschen neben den Füßen.
Sie mustern sich, dann werden die Gespräche fortgesetzt.
»Und du? Findest du mit deinem Mindestlohn immer noch keine Wohnung?«
»Genauso wenig wie du!«
»Aber du arbeitest bei der Stadt, verdammt!«
»Ich bin Aushilfskraft, das ist noch schlimmer als ein Zeitvertrag …«
»Und was ist mit dir? Du hattest doch ein heißes Eisen im Feuer, oder?«
»Ist nichts draus geworden …«
»Scheiße, das gibt’s doch überhaupt nicht!«
Vor ihm steht eine angeschlagene Trinkschale samt Metalllöffel. Kein Messer. Der Geruch nach Suppe vermischt sich mit den Gerüchen der stinkenden Körper, die an den Tischen sitzen.
Eine zerbeulte Metallschüssel und ein paar trockene Brotstücke werden hingestellt. Man bedient sich. Das Gespräch geht weiter. Er isst schweigend. Ein Stuhl bleibt leer.
An den anderen Tischen wird vor sich hin geknurrt, gegrölt und geschnauzt, an vorderster Front Nanar vom Trottoir. Die Russen haben dafür gesorgt, dass die Plätze um sie herum frei sind. Als die Suppe kommt, steht an einem anderen Tisch der Le-Pen-Anhänger auf und beginnt das Tischgebet zu sprechen.
»Segne dieses Mahl, o Herr …«
Einige nehmen ihre Mützen ab, bekreuzigen sich, falten die Hände oder tun das Gegenteil, lachen dreckig, rufen »Schnauze!«, »Lutsch mir den Schwanz!«, »Schwuchtel!« und werfen mit Brotstücken nach dem Mann.
Er beendet sein karges Mahl, stellt die leere Schale auf den Servierwagen, der zwischen den Tischen vorbeigeschoben wird, und erhebt sich, um den Speisesaal zu verlassen.
Auf der Türschwelle begegnet ihm der Mitarbeiter, der sein Anmeldeformular ausgefüllt hat.
»Hier, Ihre Karte. Die Nummer ist gleichzeitig Ihre Bettnummer, zweite Etage.«
Er nimmt die Karte.
»Die sollten Sie immer bei sich haben, und achten Sie darauf, sie nicht zu verlieren, denn die brauchen Sie noch, um Ihre Sachen abzuholen.«
Er schiebt sie in die vordere Hosentasche.
»Wenn Sie wollen, können Sie morgen früh mit einer Sozialarbeiterin sprechen.«
Er geht.
»Gute Nacht …«
Ein Fenster zur Welt
Er trottet durch die Gänge. Bleibt vor einer halb geöffneten Tür zu einem Zimmer stehen, in dem in zwei Metern Höhe hinter einer Scheibe aus Sicherheitsglas ein kleiner Fern seher thront. Ein Dutzend Übernachtungsgäste sitzen auf Stühlen und verfolgen die Spätnachrichten, wobei eine Weinflasche aus Plastik herumgereicht wird.
Er lehnt sich an den Türrahmen. Das Fenster zur Welt strahlt eine Reportage über die auf der Place de la Bastille organisierte große Solidaritätsveranstaltung aus. Aufgrund der Minustemperaturen der letzten Tage erlebt das Thema Obdachlosigkeit in den Medien einen vorzeitigen Boom. Über den kleinen Bildschirm marschieren Kinostars, VIPs, Politiker und Politikerinnen jeder Couleur sowie einfache, anonyme Menschen, die alle miteinander bestürzt sind über dieses »menschliche Drama«, erfüllt vom Gedanken der »Solidarität« und empört über derart »tragische Lebensbedingungen«. Vor dem Auge der Kamera sind die Gesichter ernst, die Blicke, die Stimmen, der Ton feierlich.
»Die Regierung hat ihre Versprechen nicht eingelöst!«
»Ich habe persönlich die unverzügliche Bildung eines Sachverständigenrats gefordert, der sich mit diesem drängenden Thema befassen soll …«
»Diese Frage betrifft uns alle! Es geht um die Würde des Menschen!«
»Wir können nicht hinnehmen, dass Nacht für Nacht Männer und Frauen sterben und sich
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