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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harold Cobert
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niemand dafür interessiert! Gerade in Frankreich, dem Land der Menschenrechte!«
    Im Fernsehzimmer erhebt sich Protestgeschrei, begleitet von Hohngelächter und Gemurre:
    »Aber sicher doch! Geh doch zu deiner Schlampe zurück und besorg’s ihr!«
    »Genau, du Arschloch!«
    »Und die schlafen alle im Warmen!«
    »Scheiß-Spießer!«
    »Verarschen können wir uns selbst!«
    Am Ende zerschellt eine halb volle Flasche an der Scheibe aus Sicherheitsglas.
    »Verdammt, Marcel, der Wein!«
    Lallende Wortgefechte, dreckiges Gelächter.
    Er löst sich vom Türrahmen und dreht sich auf dem Absatz um.

Ausgangssperre
    Im zweiten Stock findet er sein Zimmer, einen kleinen Raum mit drei Etagenbetten. Jedes ist mit einer Nummer versehen. Auf der anderen Seite des Raums führt eine Tür zu einem Badezimmer mit Duschen und Toiletten.
    Er geht zu seinem Schlafplatz. Der, der über ihm schlafen wird, hat sich bereits hingelegt. Ein im Großen und Ganzen sauberer Mann um die vierzig, der gerade eine Zigarette raucht. Sie wechseln einen Blick, aber keine Worte. Was die anderen Zimmergenossen betrifft, so liegen einige schon zusammengekrümmt unter ihren Decken, während andere noch dabei sind, sich auszuziehen und ihre durchdringenden Körpergerüche in den Raum zu entlassen. Zwei von ihnen gehören zur selben Spezies wie Nanar vom Trottoir. Die fallenden Kleiderschichten entblättern ihre aufgeblähten Bäuche, ihre skelettartigen Beine und Arme. Das rötliche Braun ihrer Gesichter, Hälse, Hände und Füße kontrastiert mit dem von Gänsehaut überzogenen Weiß der Körper, die zudem mit grünen Äderchen und Schorf bedeckt sind.
    Einer der beiden Asphalt-Clowns fängt seinen Blick auf.
    »Tjaja, Jüngchen«, schleudert er ihm ins Gesicht, »Schmuddelbräune? Pennerbräune!«
    Wortlos wendet er sich ab und faltet seine Decke auseinander. Die Matratze ist mit einer weißen Plastikhülle bezogen, auf der allerlei bräunliche Flecken zu sehen sind. Als er sein Bett macht, runzelt er die Stirn: Auf der braunen Wolldecke tummeln sich mikroskopisch kleine, hellgrau schimmernde Pünktchen. Parasiten.
    »He, Grüngurke!«, spricht ihn der Clown nochmals an und kratzt sich dabei den Bauch. »Mach nicht so ’n Gesicht! Wenn du nach Nanterre kommst und noch keine Tierchen hast – beim Rauskommen haste se bestimmt!«
    Wieder das höhnische Grinsen. Im Flur macht einer der Mitarbeiter die Runde.
    »Los, los, Leute, Zapfenstreich!«
    Nanars Klone schimpfen leise »Scheiß-Fascho!« und »Schlimmer als die Armee, dieser Knast hier!« vor sich hin und legen sich auf ihre Betten. Einer der beiden knotet die Schnürsenkel seiner Schuhe aneinander und legt sie sich um den Hals.
    Er selbst zieht die Decke und das Kopfkissen von der Matratze, wirft sie unters Bett und legt sich hin.
    Einige Minuten später geht das Licht aus. Die Fenster haben keine Vorhänge. Draußen ist die Nacht fahl. Bleiches Mondlicht durchflutet den Raum.
    Er schließt die Augen.

Rastlose Nacht
    Einen Moment lang ist es ruhig, dann starten die beiden Asphalt-Clowns ihren nächtlichen Rabatz.
    »He, Pierrot, knack die Pulle!«
    Das Rascheln einer Tasche, das Knistern einer Tüte, dann laut gluckernde Schluckgeräusche.
    »He, trink mir nicht alles weg, du Arsch!«
    Ein tiefer, klangvoller Rülpser.
    »Ist ja schon gut! Man wird ja wohl mal kurz seinen Durst löschen dürfen!«
    Die Reaktionen der Mitbewohner lassen nicht auf sich warten.
    »Schnauze, ihr Penner!«
    »He, und was bist du? Die Königin von England vielleicht?«
    »Halt’s Maul, du Drecksack!«
    »Na los, komm her und sag das noch mal, du schmieriger Ausländer-Bastard!«
    Einige Bemerkungen fallen in fremden Sprachen aus dem slawischen oder maghrebinischen Raum und werden plötzlich von einem klammen Furz übertönt.
    »Mist, ich muss scheißen!«
    Dann das Quietschen eines Bettes, aus dem jemand dengefährlichen Abstieg wagt. Kurz darauf durch die offene Badezimmertür ein knatterndes Konzert von Gedärmen.
    Am Ende siegen die Kälte und die Müdigkeit, die sich im Lauf des Tages angestaut haben, über das allgemeine Chaos. Es beginnt eine Symphonie der Magensäfte und Rachenschleimhäute. Man hört nur noch sägendes Schnarchen, kollernde Mägen, Darmgeräusche, Räuspern, Geröchel und endlose, erstickungstodähnliche Hustenanfälle. Dazu die stummen, schmierigen Geruchsarien, gewürzt mit dem scharfen Schweiß feuchter Achseln und Füße und den üblen, durch gepanschten Wein und kalten Rauch verpesteten

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