Ein Winter mit Baudelaire
Die Morgenröte ist nicht mehr fern.
Fahler Morgen
Als er ins Obdachlosenheim zurückkehrt, hat das Reinigungspersonal begonnen, den Eingang und die angrenzenden Flure zu säubern. Der Geruch nach Chlor vermischt sich mit den Überresten des nächtlichen Gestanks.
Er zeigt seine Karte und geht in den Speisesaal. Ein zaghaftes Tageslicht ergießt sich in den Raum. Obwohl es so verhalten ist, hebt es auf grausame Weise das Grau der matten, vor Erschöpfung zerfurchten Gesichter hervor.
Ein Großteil der Übernachtungsgäste ist schon da. Die meisten sitzen am selben Tisch wie am Abend zuvor, nach Elends-Couleur sortiert wie welke Sträuße. Die Russen bleiben unter sich. Nanar und sein Gefolgsmann sitzen nebeneinander. Beim Heben der Trinkschalen wird hier kräftig um die Wette gezittert.
Er durchquert den Raum und geht zu dem Tisch, an dem er gestern saß. Die drei um die dreißig in Anzug und Hemd haben ihren Kaffee schon fast ausgetrunken und schenken ihm wenig Aufmerksamkeit. Schweigend trinkt er seinen. Als er aufsteht, um zu gehen, kommen die jungen Turteltauben und setzen sich. Sie nicken sich zu, und er verlässt den Speisesaal, um seine Tasche zu holen.
Draußen warten mehrere kleinere Busse darauf, denRückstrom der Obdachlosen vor die Tore der Hauptstadt zu leiten.
Mit der Tasche zu seinen Füßen raucht er eine selbst gedrehte Zigarette und beobachtet die sich formierende Schlange. Es wird getorkelt, geschubst, gebrüllt.
Plötzlich tritt Nanar vom Trottoir aus der Reihe und stürzt mit verdrehten Augen, von heftigen Krämpfen geschüttelt zu Boden. Ein Mitarbeiter des Obdachlosenheims läuft zu ihm, kniet vor ihm nieder, hebt seinen Kopf an und steckt ihm die Hand in den Mund.
Als der Anfall vorbei ist, schlägt Nanar benommen die Augen auf.
»Alles in Ordnung?«, fragt ihn der Mann, der verhindert hat, dass er an seiner eigenen Zunge erstickt.
»Na ja, schon … Und bei dir?«
Nanar rappelt sich auf und nimmt mit seinem Kompagnon seinen Platz in der Schlange wieder ein. Als die beiden ersten Busse voll sind, setzen sie sich rumpelnd in Bewegung.
Er drückt seine Zigarette aus, wirft sich die Tasche über die Schulter und geht los, zurück auf die Straße.
Unbekannt verzogen
29. Dezember, Spätnachmittag. Die Nacht senkt ihren unsichtbaren, eisigen Mantel herab.
Vor einer Telefonkabine schaut er nach links, dann nach rechts, zählt zum x-ten Mal sein spärliches Kleingeld, zieht noch einmal an seiner selbst gedrehten Zigarette, drückt sie mit dem Fuß aus. Er schiebt die Hände in die Taschen und tritt zögernd auf der Stelle. Schließlich geht er in die Kabine.
Er nimmt den Hörer ab, wirft die erforderlichen Geldstücke ein, wählt seine frühere Nummer. Nach dreimaligem Klingeln hebt jemand ab.
»Sandrine? …«
»Oh, da haben Sie sich wohl verwählt, hier gibt es keine Sandrine ….«
Die fremde Stimme einer Frau mittleren Alters. Er ist sprachlos.
»Habe ich nicht die 01 53 49 28 64 gewählt?«
»Doch, aber hier wohnt niemand namens Sandrine.«
Es ist eine ruhige, sanfte Stimme.
»Ich … Bitte entschuldigen Sie, meine Frau und ich sind geschieden und … also, ich habe unter dieser Nummer mit ihr und meiner Tochter zusammengewohnt, bevor …«
»Sandrine Moncin?«
»Ja, genau …«
Schweigen.
»Und … Sie wissen nicht zufällig, wo ich sie erreichen könnte? Meine Tochter hat heute Geburtstag und …«
»Nein, das tut mir sehr leid, aber ich bin ihr nur einmal begegnet, als mein Mann und ich uns das Haus angesehen haben …«
»Ach so … Na ja … Trotzdem danke … Und entschuldigen Sie die Störung …«
»Das macht doch nichts. Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte. Und alles Gute fürs neue Jahr …«
Er legt auf. Wie vor den Kopf geschlagen kramt er seine Münzen hervor, zählt sie nochmals und nimmt wieder den Hörer ab.
»Telefonauskunft, guten Abend!«
»Ich suche eine Telefonnummer …«
»In welcher Stadt, bitte?«
»Region Île-de-France.«
»Wie lautet der Name?«
»Ich suche die Nummer von Sandrine Moncin.«
»M, O, N, C, I, N?«
»Ja …«
»Einen Moment, bitte …«
Leises Klappern einer Computertastatur.
»Tut mir leid, Monsieur, aber für Madame Moncin ist kein Eintrag vorhanden …«
Er schließt die Augen, beißt sich auf die Lippen.
»… leider bin ich nicht befugt, Ihnen …«
Er legt auf und knallt den Hörer mit aller Kraft gegen das Telefon.
Er weint.
Mit zitternden Händen drückt er die Glastür auf
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