Ein Winter mit Baudelaire
Mundgerüchen.
Er wälzt sich auf seinem Bett hin und her. Der Schlaf rieselt ihm durch die Finger wie feiner Sand. Er setzt sich auf und sieht in dem in Mondlicht getauchten Zimmer auf seine Uhr: 3 Uhr 15.
Er steht auf, geht die Treppe hinunter Richtung Erdgeschoss. Aus den anderen Zimmern dringt das gleiche Konzert von scheppernden Organen. Sogar in den Fluren schlafen, auf dem Boden ausgestreckt, einige Menschen. Unten sitzt, schnarchend an eine Wand gelehnt, ein Mann, den Ellbogen in sein Erbrochenes getaucht.
Er geht in die Toilette neben den Ablagefächern. Ein Teil des Bodens ist mit bräunlich-gelbem Urin bedeckt. In einem der Pissoirs verstopft ein Kothaufen den Abfluss. Schnell pinkelt er in ein anderes und geht wieder in den Eingangsbereich.
Alles leer.
Er schweift weiter durch die Flure, bis er sich vor dem Fernsehzimmer wiederfindet. Auch hier keine Menschenseele. Der Fernseher ausgeschaltet. Umgekippte Stühle. Leere Plastikflaschen über den Boden verstreut. Rote Weinfleckenerinnern an die Flasche, die gegen das Sicherheitsglas vor dem Bildschirm schlug.
Er setzt sich, lehnt den Kopf an eine Wand, schließt die Augen und schläft ein.
Es ist kurz nach vier Uhr morgens.
Niemandsland
Schritte reißen ihn aus dem Schlaf. Er sieht auf die Uhr: Es ist fast sechs.
Er verlässt das Fernsehzimmer und wandert durch die Flure, deren Böden mit Abfall und undefinierbaren Flüssigkeiten bedeckt sind.
Der Alte sitzt immer noch schlafend an der Wand, den versteinerten Arm in die angetrocknete Pfütze aus Erbrochenem getaucht. Der Gestank der oberen Stockwerke hat sich im ganzen Gebäude verteilt. Wie ein unsichtbarer, kompakter Überwurf breitet er sich über alle Dinge und Menschen, hängt schwer in der Luft wie kalter Rauch. Alles ist ruhig.
Er geht in den Speisesaal, der um diese Uhrzeit noch vollkommen leer ist. Jemand kommt aus der Küche.
»Frühstück gibt’s ab sieben!«
Er dreht sich um und kehrt in den Eingangsbereich zurück. Mitarbeiter kommen und gehen, grüßen ihn mit ausweichendem Nicken.
Er geht hinaus in den Hof, macht seinen Blouson zu, setzt die Mütze auf, zündet sich eine Zigarette an und atmet die eisige Morgenluft ein.
Laternen beleuchten die Straße. Sie werfen fahle Lichtstreifenauf die Umgebung. Der Himmel ist noch schwarz und mit Sternen übersät.
Die Morgenröte kommt nicht.
Wir kommen alle ins Paradies
Er verlässt das Obdachlosenheim, streift über die Gehwege, lässt sich treiben. Er überquert eine Brücke, biegt links ab in eine schlecht beleuchtete Straße, eigentlich nicht mehr als ein schmaler, asphaltierter Weg. Er geht an einem großen Schuppen entlang, vor dem ein Haufen übereinandergestapelter Rohre liegt. Ein Stück weiter erheben sich die Lagerhäuser und Fabriken des Industriegebiets von Nanterre. Schließlich gelangt er zu einem Schild, das mit einem Kabel an einem Pfosten befestigt ist. »Friedhof« steht darauf.
Er klettert über das Tor und dringt im schwachen Licht der schwindenden Nacht in die Alleen ein.
Am Eingang sind die Gräber in Gras gebettet. Sie sind mit Blumen geschmückt, mit Jesusfiguren am Kreuz, mit Engeln und schmiedeeisernen Verzierungen, und sie haben Tafeln, deren Inschriften in endlosen Aufzählungen die Trauer um die begrabenen Toten verewigen.
Nach und nach verschwindet das Gras und weicht einem sandigen Untergrund, in dem er mit jedem unsicheren Schritt versinkt. Auch die windschiefen Kreuze scheinen keinen Halt darin zu finden. Die Gräber sind jetzt schmucklos. Kein Marmor, keine Engel oder Blumen.
Hier liegen hauptsächlich die ehemaligen Besucher des
Obdachlosenheims begraben. Das Heim erweist sich als ihre vorletzte Ruhestatt.
Er verlässt den Hauptweg und schlängelt sich durch die Grabstätten. Die Tafeln, auf denen die Namen stehen, die Geburts- und Todesdaten, sind fast alle verwittert und unleserlich. Manche hängen nur noch mit einer Schraube an den Armen des Kreuzes, andere sind bereits heruntergefallen und im Sand versunken.
Er kehrt zum Weg zurück und biegt in eine andere, von Kastanien gesäumte Allee ein. In einer Reihe sind die Kreuze kleiner: Hier ruhen die toten Kinder. Lange geht er im Zickzack zwischen den Gräbern umher, vor einem hält er inne und liest die knappe Inschrift: »Bruno. Totgeburt.«
Er nimmt die Mütze ab, senkt den Kopf, faltet die Hände und schließt in andächtiger Haltung die Augen.
Die Sterne sind erloschen. Die Schwärze des Himmels erbleicht zu einem kraftlosen Weiß.
Weitere Kostenlose Bücher