Ein Winter mit Baudelaire
und verlässt die Kabine. Er überquert die Straße, geht in den gegenüberliegenden Supermarkt.
Als er wieder herauskommt, hat er eine Flasche billigen Tischwein in der Hand.
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag
Essen. Suppenküche. Tafel.
Kacken. Dunkle Ecken. Freie öffentliche Klos.
Trinken. Wasserhähne Metro. Öffentliche Brunnen. Pinkeln. Dunkle Ecken. Wände.
Sauber. Bahnhöfe. Wasserhähne Metro.
Pennen. Metro. Kartons. Belüftungsschächte.
Gehen. Sich aufwärmen. Trinken. Pinkeln. Betteln. Kacken. Datum Zeitungen. Pennen. Tage zählen. Essen. Tafel. Klamotten besorgen. Caritas. Emmaus. An Claire denken.
Sich aufwärmen. Gehen. Kacken. Bitte eine kleine Spende für den guten Zweck. Mensch bleiben. Nicht bekloppt werden. Pinkeln. Tage zählen. Trinken. Waschsalon. Betteln. Zeitungen. Kacken. Gehen. Warm. Pennen.
Nicht durchdrehen. Nicht verrecken.
Betteln. Essen. Suppenküche. Schuhe und Socken. Emmaus. Pinkeln. Pennen. Trinken. Bitte eine kleine Spende für den guten Zweck. Caritas.
Nicht aufgeben. Essen. Pennen. Trinken. Alkohol. Schlechter Wein.
Nicht abkratzen.
Nicht verrecken.
Nicht erfrieren.
Nicht elendig und einsam.
Nicht wie ein Köter.
Frohes Neues Jahr
Weihnachten und seine festlichen Lichter geraten in Vergessenheit. Die Avenuen sind nicht mehr beleuchtet. Sie haben ihre nackten Fassaden zurückgewonnen. Auch die Bäume auf den Champs-Élysées zeigen wieder ihre entblößten Äste. Trotzdem wird es nicht leer in den Straßen. Noch immer spiegeln die Schaufenster tausend Hoffnungen und Versprechungen vor, mit einem Zauberwort und mit magischen Zahlen: »Schlussverkauf«, »– 30 %«, »– 40 %«, »– 50 %«, »– 60 %«, »– 70 %«. Die Jagd nach dem Kleinod ist eröffnet. In den Warenhäusern wimmelt und gärt es wie in einem Knast kurz vor dem Aufstand, an den Kassen bilden sich Warteschlangen wie früher vor den Lebensmittelgeschäften, damals in der guten alten Zeit der rationierten Essensmarken. Die hysterisch gezückten Kreditkarten lassen die Zahlen auf den Konten in einer Weise erröten, dass auch das vor Wochen gezahlte Weihnachtsgeld nichts dagegen ausrichten kann. Von morgens bis abends sind die Straßen ein Defilee von Taschen und Tüten, deren Inhalt schon tot und überholt ist. Ein vorzeitiger Frühling glänzt in allen Augen.
Die Nacht bricht nicht mehr ganz so früh herein. Ein Unterschied zählbar in Minuten, die die schöne Jahreszeit,den Sommer und seine warmsandigen Strände näher bringen. Trotz dieses Moratoriums lässt die Kälte nicht nach. Selbst am Tag herrschen Minustemperaturen, und in der Nacht wird es zwischen –5°C und –10°C kalt. Stufe zwei des Hilfsprogramms für Obdachlose ist in Kraft. Der Winter ist doch noch gekommen, und es scheint ein echter Winter zu sein.
Das Jahr fängt gut an.
Ans Ende der Nacht
»Monsieur …«
Die Hand, die an seiner Schulter rüttelt, weckt ihn. Zwei Sicherheitsbeamte der Bahn beugen sich über ihn. Er blinzelt, schlägt mühsam die Augen auf. Neben ihm eine angebrochene Flasche Billigwein.
»Die Metro macht jetzt zu, Sie können hier nicht bleiben …«
»…«
»Wenn Sie wollen, können wir Sie zur Porte de la Villette bringen lassen, damit Sie nach Nanterre fahren können …«
Murrend steht er auf, schnappt sich wütend seine Tasche und marschiert mit der Flasche in der Hand aus der Metrostation. Hinter ihm gehen klappernd die Gitter zu.
Die Rue de la Gaîté ist wie ausgestorben. Die Bars schließen. Nur die Leuchtschilder der Sex-Shops blinken noch. Zwischen zwei Lichtklecksen hin und wieder der Schatten eines streunenden Hundes.
Er geht durch die Nacht. Immer weiter. Gebeugt. Ab und zu richtet er sich auf, um mit aller Kraft gegen eine leere Dose zu treten oder einen Schluck Wein aus der Flasche zu trinken. Langsame Schritte, abgekämpft.
Alle Belüftungsgitter der Metro, an denen er vorbeikommt, sind schon von einer oder mehreren Personen besetzt. Alle windgeschützten Ecken und Eingänge ebenfalls.
Er geht den Boulevard Edgar-Quinet hinauf, blickt suchend in die Dunkelheit. Ein Belüftungsschacht ist frei. Er schaut sich in alle Richtungen um. Niemand zu sehen.
Zitternd setzt er sich hin. Seine Haare flattern im warmen Luftstrom. Er nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, stellt die Tasche auf seine Knie, öffnet sie.
Als er seinen Schlafsack und die Kartons herausholen will, erhebt sich hinter ihm eine Säuferstimme: »Das tut man aber nicht, sich bei anderen Leuten
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