Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Schluss. Sie! vom vierten in den fünften Stock.
Ab da ging alles ganz schnell. Sie! blieb vor der Tür stehen und legte los. Sagte, dass Sie! nicht mehr wollen würde. Aber irgendwann vielleicht wieder. Nur zurzeit hätte Sie! das Gefühl, alleine besser klarzukommen. Vollkommen überrumpelt von ihr, der Situation und dem Treppenhaus fiel ich in einen seltsamen Trancezustand. Als ob alle Hormone, Endorphine, Testosteron und wie sie alle heißen, sich mit sämtlichem Adrenalin zu einem lustigen Betriebsausflug durch meinen Körper mit dem Ziel Hirn aufgemacht hätten.
Erst wurde mir heiß. Dann kalt. Ich begann zu schwitzen. Nicht auf der Stirn. Innerlich. Ich fühlte Schweiß in Strömen in meinem Körper hinunterfließen.
In der Ferne hörte ich eine Stimme von Freiheit und Zeit für sich reden. Ihr Körper verschwand völlig. Nur ihr Gesicht, das zu einer seltsam-hübschen, fleischigen Masse verschwommen war, konnte ich noch sehen. In einer Totalen.
Auf einmal hörte ich mich sagen: »Wir haben beide was Besseres zu tun.«
Dann schloss ich die Tür.
Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Nicht telefoniert. Einen seierigen Brief mit tröstenden Erklärungen, wie »Ich liebe dich zu sehr«, habe ich auch nicht bekommen. Es ist doch auch egal, warum jemand Schluss macht. Sie! ist nicht mehr da. Das zählt. Die angeblichen Gründe sind nur Verpackungen für die banale, aber schreckliche Wahrheit. Wie tolles Geschenkpapier für ein lieblos ausgesuchtes Geschenk. Sie! liebt mich nicht mehr. Das ist der Grund. Wenn man verliebt ist, macht man alles. Nur nicht Schluss.
Nun stehe ich, mich umschauend, in ihrem Schlafzimmer. Dieselben irgendwann mal weiß gestrichenen Wände, die jetzt wie vergilbte Zähne erscheinen. Derselbe beige Teppich mit dem Milchfleck, der sicher immer noch anfängt zu riechen, wenn es warm wird. Derselbe Schreibtisch mit Metallgestell und Glasplatte. Alles hier ist viel schöner als die Erinnerung daran. Es ist, als ob ich die besondere und einmalige Schönheit dieser Möbel nie gewürdigt habe, als ich es noch durfte.
Ich habe eine Tüte mit ihren Sachen gepackt. Aus zwei Gründen:
Ich will, ich muss Sie! sehen. Daran führt kein Weg vorbei. Dafür brauche ich aber einen Grund, der halbwegs plausibel ist. Mich nicht wie das letzte Weichei aussehen lässt.
Ich will Emotionen sehen. Sehen, dass Sie! mich geliebt hat. Sehen, dass ich Sie! noch verletzen kann. Wenn ich schon nicht mehr das Recht habe, Sie! zu berühren.
Ihren ganzen Kram habe ich in eine Tüte geschmissen und mich unangemeldet auf den Weg gemacht. Ihre gelbe Dr.-Best-Zahnbürste mit verschieden langen Borsten, zwei Schlaf-T-Shirts und ein Friends- Video. Drei Bücher (von denen zwei ziemlich sicher mir gehören) und meinen Joker: einen knallroten Plüsch-Hummer aus Sylt. Vom Fischstand GOSCH am Lister Hafen. Den hat Sie! mir zu einem Monatsjubiläum geschenkt. Eigentlich ein indiskutables Ding. Leider »total süß«, wenn man verliebt ist und es so total »spontan« kauft. Das wird Sie! umhauen. Da bin ich mir sicher.
Während Sie! in der Küche genervt eine Verabredung verschiebt (doch wohl nicht mit einem Typen?), überlege ich, wie ich ihr die emotionale Wundertüte am besten überreichen soll. Entweder ich ziehe einzeln, wie ein Zauberer aus seinem Hut, alles heraus. Oder ich werfe die Tüte mit einer gesunden Mischung aus Theatralik und Ambitionslosigkeit auf ihr Bett. Vorteil beim einzelnen Herausnehmen wäre, dass ich in jedem Fall ihre Reaktion auf den Hummer mitkriegen würde. Der Nachteil, dass offensichtlich ist, dass ich die Reaktion auf den Hummer mitkriegen will. Vorteil beim Tüte-Hinschmeißen: Kann souverän und »drüber weg« rüberkommen.
Ich beschließe, den Hummer ganz oben in der Tüte zu positionieren. Direkt auf der glatten und harten Oberfläche der Bücher (meiner Bücher). Der Hummer soll beim Schmeißen herausfallen. Nahe an genial, würde ich sagen.
Sie! betritt den Raum, doch nicht ganz. Sie! bleibt kurz vor der Tür stehen. Ihr linker Arm baumelt fast leblos an ihr hinunter. Mit der rechten Hand hält Sie! sich am oberen Türrahmen fest. Sie! ist nicht geschminkt. Das mag ich. Unter ihren Achseln sind ganz kleine Stoppeln zu sehen. Frisch verliebt ist Sie! also nicht.
»Was hast du in der Tüte?«
So locker flockig, wie es mir möglich ist, schmeiße ich die Tüte auf ihr Bett. Mit einem Plopp landet sie mit der Unterseite auf der gelben Tagesdecke. Fällt dann ganz langsam nach vorne.
Weitere Kostenlose Bücher