Eindeutig Liebe - Roman
obwohl ich nicht so recht wusste, wovon. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass ich die Dinge einfach so akzeptierte, wie sie waren, und in diesem Rahmen versuchte, auf meine Kosten zu kommen. Ich hatte oft Panik gehabt, weil ich meine Vision dessen, was ich mit dreißig erreicht haben wollte, nicht realisieren konnte und weil ich Sienna so sehr liebte. Doch irgendwie war es mir gelungen, diese Dinge beiseitezuschieben, und ich hatte gelernt, im Jetzt zu leben.
Im Leben ging es doch vor allem darum, die Reise zu genießen. Das jedenfalls hat mir vor ein paar Wochen ein Fremder im Bus gesagt, und obwohl es mir damals eher wie Ironie vorkam, begreife ich heute, was er meinte. Möchte ich wirklich achtzig werden und bedauern, wie viel Zeit ich in den Zwanzigern und Dreißigern damit vergeudet habe, über die Zukunft nachzudenken, obwohl sich doch in Wirklichkeit alles von selbst ganz wunderbar ergibt? Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Was ich gerade – wenn auch nur langsam – lerne, ist, das Gleichgewicht zu halten. Wirklich hart zu arbeiten, ehrgeizig zu sein, ein Aufsteiger, aber auch nachsichtig mit mir selbst, wenn die Dinge mal nicht nach Plan laufen. Man kann schließlich nicht mehr tun, als sich wirklich anzustrengen und jeden Tag zu versuchen, sich zu verbessern.
Trotz allem komme ich noch immer nicht dagegen an, dass ich Sienna liebe. Ich verehre sie. Wenn ich sie anschaue, schmelze ich auch jetzt noch in der Tiefe meiner Seele dahin. Denke ich an sie, erfüllt mich Glückseligkeit. Was uns verbindet, ist einzigartig. Ich habe nun aber akzeptiert, dass sie niemals mir gehören wird, deshalb muss ich sie aus der Entfernung lieben und weiterziehen. Es funktioniert. Es funktioniert wirklich. Endlich gewinne ich meinen Seelenfrieden zurück.
Zuerst war es hart, mir etwas abzugewöhnen, nach dem ich so süchtig war. Es begann ganz eigenartig: Ich träumte ständig dieses verrückte Zeug von Sienna. Überall sah ich sie – am Bahnhof, im Supermarkt, im Einkaufszentrum. Ich wusste, dass sie es war, und versuchte, ihr auf die Schulter zu tippen, damit wir reden konnten. Aber jedes Mal, wenn sie sich zu mir umdrehte, war ihr Gesicht verschwommen. Einmal befanden wir uns in einer Bibliothek, und ich sah sie durch die Lücken in einem Bücherregal. Ich versuchte ihr zu sagen, dass ich sie liebe, aber sie wusste überhaupt nicht, wer ich war.
So viele Nächte wachte ich schweißgebadet auf. So oft schwebte mein Finger über ihrem Namen in der Kontaktliste meines Handys. Einmal habe ich sogar angefangen, einen Brief an sie zu schreiben, aber dann warf ich ihn weg. Oft kam es mir vor, als verlöre ich den Verstand. Doch inzwischen begreife ich, dass ich sie damals ausgeschwitzt habe. Und jetzt ist sie fort. Nicht wörtlich, natürlich – ich treffe sie noch, und wir unternehmen auch manchmal noch etwas zusammen, aber nicht mehr so oft. Meistens besuche ich sie und George in ihrer Wohnung zum Abendessen. Auf diese Weise ist der Kontakt weniger intensiv, und ihrem Vater gefällt es.
Die Sehnsucht ist zu einem leichten Zwicken geworden und nicht mehr das sengende Verlangen von früher. Ich nehme jetzt auch andere Frauen wahr. Ich kann sie ansehen und weiß sie zu würdigen. Es ist, als wäre mir eine Augenbinde abgenommen worden, als hätte man mich freigelassen – und ich genieße es. Inzwischen kommt es sogar vor, dass ich Verlangen nach einer anderen verspüre.
Und im Augenblick will ich Chloe Rogers – und zwar nicht à la »Lass uns Schach spielen, ein wenig spazieren gehen, Milchkaffee trinken und Rosinenbrötchen essen«. Nein, ich möchte mit Chloe ein Wochenende auf dem Land verbringen, bei dem man das Hotelzimmer nur verlässt, wenn der Feueralarm losgeht.
Oh nein … Es war bereits elf, und ich war mit dem Kaffeekochen an der Reihe. Außerdem war es Zeit, Tom mal wieder einen Streich zu spielen. Der letzte war lange her … Am Horizont winkte eine Beförderung, deshalb benahm ich mich besser als gewöhnlich und arbeitete manchmal bis in die Nacht.
Ich verließ meinen Schreibtisch und ging ins Großraumbüro. Meine hellblauen Turnschuhe scharrten über den rauen Polyesterteppich. Eiliges Tippen und leise Telefonate erfüllten den ganzen Raum; alle waren hoch konzentriert, einschließlich Sienna, die sich so dicht Richtung Computerbildschirm beugte, dass ich mich fragte, wann sie endlich mal zum Augenarzt gehen würde.
Chloe saß ihr gegenüber; sie grinste mich an, dann senkte sie den
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