Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
Vom Netzwerk:
den der Reverend damals mit seiner Familie bewohnt hatte, oder in der unmittelbaren Nachbarschaft. Seit den beiden Bombendrohungen waren etliche Wochen vergangen, und ich hatte einerseits schon nicht mehr daran gedacht, mir andererseits aber auch die drastischsten Szenen ausgemalt und hätte es doch nie für möglich gehalten, dass es tatsächlich so enden könnte.
    »Eine richtige Bombe?«
    Das wenige, was Agata wusste, war schnell erzählt.
    »Kein Spiel diesmal mehr?«
    »Ich fürchte, nein«, sagte sie, ihren Blick abgewandt, als schämte sie sich dafür oder als würde es helfen, wenn sie nicht hinsah. »Es scheint einen ziemlichen Wumms gemacht zu haben.«
    Zuerst überlegte ich, auf die Autobahn zu fahren, nahm dann aber doch den kürzesten Weg über die Felder, eine Schotterstraße, wo eigentlich Fahrverbot herrschte und der Grasstreifen in der Mitte manchmal kniehoch und höher war, was mich nicht kümmerte. Ich weiß nicht mehr, ob Agata auf mich einredete oder ob ich mir das nur einbilde und sie in Wirklichkeit schweigend neben mir saß, aber ich habe die deutliche Erinnerung, dass sie die Sonnenblende herunterklappte und sich in dem kleinen Spiegel darin ausgiebig betrachtete. Ohne meinen Blick zu erwidern, lächelte sie und verschob die Lippen gegeneinander, als hätte sie sich gerade geschminkt. Es war ein absurdes Bild, und ich hatte keine Ahnung, was sie damit bezweckte, erkläre es mir jetzt aber als Teil eines kindlichen Abwehrzaubers, der sie das ohne ihr Wissen tun ließ. Ich schaltete das Radio an, doch sosehr ich auch von einem Sender zum anderen suchte, es gab noch keine Meldungen, und merkwürdigerweise beruhigte mich das, geradeso, als wäre noch nichts geschehen oder als wäre zumindest alles umkehrbar, solange es sich nicht zu einer Nachricht verfestigt hatte.
    »Einen ziemlichen Wumms?«
    Ich habe keine durchgehende Erinnerung, wie wir dann hingekommen sind. Es bleiben lauter einzelne Bilder, dafür gestochen scharf. Immer noch sehe ich die Heuhütten vor mir, die auf dem Weg hinaus vorbeiflogen, als würde der Fahrtwind sie in ihre Einzelteile zerlegen und hinter uns nur Bretterhaufen zurücklassen, die Strommasten, zwischen denen die Drähte fast bis auf den Boden durchhingen, und irgendwo tuckerte verloren ein Traktor. In der Ferne türmten sich die Wolken in mehreren Stockwerken übereinander, und ich staunte, wie weit und unermesslich das Land eingesperrt zwischen den Bergen sein konnte, wenn man es nur einmal aus einer anderen Perspektive betrachtete. Ich glaube, dass ich Agata darauf hinwies, als wir direkt an der Landestelle des Bombers vorbeikamen, aber das Wort »Bomber« genügte, dass sie mich nur verständnislos ansah und gleich wieder hinaus auf das Stück Wiese blickte, wo natürlich nichts darauf hindeutete, dass die Felder nicht immer so friedlich dagelegen waren, wie sie jetzt dalagen. Ein paar hundert Meter führte der Weg parallel zur Autobahn, und ich erwartete Einsatzfahrzeuge, erwartete Feuerwehr und Polizei, aber tatsächlich krochen nur einzelne Autos müde dahin. Der Sommer hatte gerade erst mit aller Macht begonnen, in der Luft war ein Sirren wie von tausend Zikaden, und durch das geöffnete Fenster konnte ich unter dem übermächtigen Hopfengeruch von der nahen Brauerei und dem schweren Geruch nach Acker und Erde auch den Geruch riechen, den ich am meisten liebte, den Geruch nach frisch gemähtem Gras möglichst früh im Jahr.
    Der Hof, den der Reverend seinerzeit gemietet hatte, lag in der Sonne, und ich näherte mich langsam. Ich blieb vor dem Gartentor stehen, und auf den ersten Blick schien alles noch wie im Sommer damals. Am Zaun hing wieder ein Verkaufsschild, von Wind und Wetter arg mitgenommen, und im Parterre, direkt neben der Eingangstür, fand sich eine zertrümmerte Scheibe. Den Garten mit den weit auseinanderstehenden Apfel- und Birnbäumen konnte man verwildert nennen, aber das war er schon damals gewesen, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn die beiden Mädchen aus dem Haus getreten wären wie aus einem Puppenhaus und mit ihrem Federballspiel begonnen hätten. Das zischende Hin und Her hatte ich noch in den Ohren, das wie ein Metronom die Sekunden zählte und einem, wenn man nur lange genug hinhörte, das sichere Gefühl gab, da müsse immer noch ein Schlag folgen und es könne nie zu einem Ende kommen. Ich wollte schon weiterfahren, als ich die Fahne auf dem Balkon im zweiten Stock entdeckte. Es war eine türkische Fahne, nicht sehr groß,

Weitere Kostenlose Bücher