Eine Ahnung vom Anfang
schwärmerisch«, sagte ich. »Was haben Sie gesagt?«
Dabei zwang ich mich, meinen Blick von Christoph abzuwenden und Interesse zu mimen, aber Herr Oswald lachte nur über meine Frage.
»Wie Sie vielleicht wissen, war ich damals Bürgermeister«, sagte er, als wäre das schon eine Antwort darauf. »Da haben Sie nicht viel Spielraum.«
Er hörte nicht auf, Christophs Arm zu bearbeiten, während er mich gleichzeitig nicht aus den Augen ließ und voller Jovialität weiterredete.
»Ich hätte sagen können, meinen Teddy, und alle hätten geglaubt, ich will mich andienen. Es kann sich ja niemand vorstellen, dass ein Politiker ein Mensch mit Gefühlen ist. Ich hätte sagen können, meine erste Kinderfrau, die mich nach dem Rodeln im Winter in den Arm genommen hat, und ich hätte mich der Lächerlichkeit preisgegeben, weil mir das als Männerphantasie ausgelegt worden wäre.«
»Und wie haben Sie sich aus der Affäre gezogen?«
»Ich habe gesagt, ich vermisse mich selbst als den Knaben, der ich war. Ich vermisse mich in meinem blauen Anzug bei der Erstkommunion zwischen meinem Vater im gleichen blauen Anzug und meiner Mutter in einem blauen Kostüm. Ich habe gesagt, ich vermisse alles, woran ich damals geglaubt habe.«
Dieser Ausbruch von Sentimentalität kam für mich ganz und gar unerwartet, und ich wusste nicht, was sagen, und nahm wieder Christoph in den Blick, der endlich seinen Arm frei gemacht hatte und dasaß, ohne eine Miene zu verziehen. Er schien das schon zu kennen und sah Herrn Oswald eine Weile aus ausdruckslosen Augen an, bevor er erwiderte, sein Herr Schwiegervater werde auf seine alten Tage ein bisschen wunderlich, und das nun seinerseits mit gerade so viel Ironie versetzte, dass es nicht von Bitterkeit zu unterscheiden war. Dann stand er auf und entschuldigte sich, er müsse jetzt leider zu seiner Arbeit zurück. Er machte jedoch keine Anstalten zu gehen, bis auch Herr Oswald sich erhob. Eine Weile blieben sie vor mir stehen, als sollte ich entscheiden, wer in dem Schlagabtausch der Sieger sei, aber als ich schon glaubte, es werde noch etwas kommen, eilte Christoph wortlos davon.
Vor der Villa waren wieder die beiden Mädchen aufgetaucht. Sie hatten unsere Anwesenheit bemerkt und winkten zu uns herüber. Einen Augenblick war ihr Lachen zu hören, das Lachen der Jüngeren, das immer so klang, als würden sie an den Älteren etwas komisch finden. Dann gingen sie eingehängt zum Tor hinunter, drehten sich noch einmal zu uns um und waren in der nächsten Sekunde wie zwei Luftwesen verschwunden.
Ich stand selbst schon wieder auf der Straße, als mir einfiel, dass ich Herrn Oswald doch nach dem Buch hätte fragen sollen. Die Gelegenheit hätte ich gehabt, als er mir die Hand schüttelte und sagte, er könne doch mit meiner Stimme bei den Wahlen rechnen. Es ging mir immer noch durch den Kopf, dass es vielleicht doch nicht zufällig das gleiche Buch war, das ich vor dem Hof des Reverends hatte mitgehen lassen, und die Idee, der Verrückte könnte Einfluss auf ihn genommen haben, ließ mich nicht los, auch wenn damit nichts bewiesen wäre. Zu Hause suchte ich noch einmal nach meinem Exemplar, aber ich fand es wieder nicht. Ich überlegte, ob es unter den Büchern sein konnte, die ich vor einiger Zeit auf den Dachboden geschafft hatte, doch als ich fast schon so weit war, hinaufzugehen und nachzuschauen, bremste ich mich. Zu sehr schreckte ich davor zurück, die Bananenschachteln noch einmal zu öffnen, die ich damals zusammengepackt hatte. Ich hatte mich von jedem einzelnen Buch nur schwer getrennt, war dann aber schnell froh gewesen, es nicht mehr um mich zu haben, obwohl es noch einige Zeit brauchte, bis ich mir das eingestand. Da hatte ich beim Lesen auch längst schon aufgehört, mich zu fragen, was wohl Robert dazu gesagt hätte, wenn mir ein Buch gefiel, und ich wusste, dass ich mich noch von vielen anderen würde trennen müssen, vielleicht sogar von meiner ganzen Bibliothek, wenn ich endlich meinen Frieden mit ihm finden wollte.
Der Besuch bei Christoph erzeugte ein leeres Gefühl in mir. Weil ich nicht klüger war als zuvor, sagte ich mir, ich wäre besser nicht hingegangen. Ich hatte nie viel darüber nachgedacht, wie die beiden Jungen zueinander standen, wenn ich von der ersten Gewissheit ihrer Freundschaft und Unzertrennlichkeit absah, aber Herrn Oswalds wie ernst auch immer gemeinte Aussage, Manon sei zuerst in Daniel verliebt gewesen, ließ mich wieder überlegen, welche Zufälligkeiten ein
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