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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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vier, vier von meinen ehemaligen Schülern, die nicht mehr leben. Zwei haben einen Unfall gehabt, eine von diesen aus den Nachrichten allseits bekannten Samstagnacht-Geschichten, eine Fahrt von einem Tanzlokal zum nächsten, ein Wettrennen mit drei Autos, die Fahrer betrunken, und tatsächlich sind in der Gegend die Täler voll mit Kreuzen am Wegrand, steht in jeder zweiten oder dritten Kurve eines, das an ein Unglück erinnert. Ein Junge ist beim Fußballspielen zusammengebrochen und war sofort tot, ein übersehener Herzfehler, schon seit seiner Geburt, und ein anderer hatte Krebs, mühte sich durch die Matura und starb keine zwei Monate später wie als Spott auf alle Bemühungen, ihn für das Leben vorzubereiten. Am häufigsten denke ich an das Mädchen, das nicht in meine Schule ging, das aber ein paar Wochen lang jeden Sonntag nachmittag zu mir nach Hause zur Nachhilfe kam. Sie war aus dem Dorf und hatte dieses zurückgenommene Auftreten eines Kindes armer Leute aus einer anderen Zeit, wie man es heute im Grunde gar nicht mehr findet. Ich sollte mit ihr Aufsatzschreiben üben, und sie saß mir stumm gegenüber, immer ein bisschen bleich im Gesicht, immer mit zu großen Augen und einem fragenden, verwunderten Blick, und besonders bedrückt mich bei ihr, dass mir ihr Tod erst mit mehr als zweijähriger Verspätung bekannt wurde und ich dieses lange Nichtwissen für eine Verfehlung halte, weil ich nicht wenigstens ab und zu in Gedanken bei ihr war, geradeso, als hätte ich sie dadurch in all der Zeit auf eine nicht wiedergutzumachende Weise allein gelassen. Gestorben ist sie unmittelbar nachdem ich nach Istanbul gegangen war, und entweder wollte man mich so bald nach dem Unglück mit meinem Bruder nicht damit belasten oder vergaß nur, daran zu denken, jedenfalls kam niemand auf die Idee, mir davon zu erzählen. So erfuhr ich es erst, als ich ein paar Wochen nach meiner Rückkehr auf den Friedhof ging. Ich wollte zum Grab meiner Großeltern, und als ich danach noch eine Weile zwischen den anderen Gräbern umherschlenderte, entdeckte ich den Grabstein mit ihrem Foto. Es war eine Lungenembolie nach einer unkomplizierten Operation gewesen, ein Beinbruch bei einem Fahrradunfall, und ich kniete mich hin und hätte sie am liebsten um Verzeihung gebeten, dass ich sie nicht davor bewahrt hatte.
    Agata ist vermutlich die einzige, die versteht, warum ich immer an Daniel festgehalten habe, oder vielleicht ist »versteht« schon zuviel gesagt, sie hat jedenfalls Verständnis dafür. Die anderen sprechen ihre Vorbehalte in der Regel nicht aus, aber natürlich ahne ich sie, und ich merke die Verwunderung, wenn ich mich naiv gebe, merke die Empörung. Sie glauben zu wissen, dass er mich enttäuscht hat, und manche haben das auch angedeutet, aber ich bin nicht darauf eingegangen. Statt dessen habe ich so getan, als wüsste ich nicht, wovon sie reden, habe gefragt, warum sie da so sicher seien, und es ein Missverständnis genannt, wenn sie ausweichend antworteten. Ich hätte genauso sagen können, dass es vor jedem Ende einen Anfang gab und dass der dann oft alles Weitere rechtfertigte oder wenigstens erklärte.
    Daran dachte ich auch, als ich an dem Abend, an dem ich Daniel auf dem Foto zu erkennen geglaubt hatte, das Bruckner verließ. Ich steckte die Zeitungsseite ein und trat hinaus in den Nieselregen. Es hatte erst vor zwei Wochen zum letzten Mal geschneit, und selbst jetzt konnte das Wetter noch einmal winterlich werden, aber ich entschied mich dennoch, das Auto stehenzulassen und zu Fuß nach Hause zu gehen, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Das Bild ging mir nicht aus dem Kopf, doch mehr noch als das Bild beschäftigten mich die Zeilen, die in der Tasche auf dem Bahnhof gefunden worden waren. Sie wirkten nicht gerade originell, aber das »Kehret um!« hatte in Daniels Denken seinen Platz, und natürlich war ihm auch der biblische Gestus nicht fremd.
    Die Hauptstraße in der Nacht löste bei mir immer einen Schauder aus. In den vergangenen Jahren sind so viele Geschäfte aufgegeben worden, weshalb es etwas Gespenstisches hat, an den leerstehenden Lokalen vorüberzuschlendern, und manchmal brannte im Stockwerk darüber unerwartet Licht, was den Eindruck nur noch verstärkte. Die Auslagen der anderen Läden wirkten wie seit Jahren unverändert, hier eine flackernde Neonleuchte, dort ein blinkendes Licht, und ein einsames Auto umkurvte wie von weit her kommend die Blumentröge, die paradoxerweise zur Verkehrsberuhigung

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