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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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aufgestellt worden waren. Außer mir schien kein Mensch auf der Straße unterwegs zu sein, nicht nur an diesem Tag und nicht nur wegen des Wetters, sondern weil es an allen Tagen so war, ausgenommen vielleicht samstags, und bis vor zwei, drei Jahren wäre das für mich ein Grund gewesen, zu überlegen, ob ich nicht doch noch einmal weggehen solle, irgendwo ins Ausland oder nach Wien, aber zwei, drei Jahre können eine lange Zeit sein.
    Obwohl ich mir davor schon Gedanken gemacht hatte, welchen Einfluss ich auf Daniel gehabt haben mochte, kehrte das Thema jetzt mit aller Macht wieder. Er war vier Jahre mein Schüler gewesen, von der ersten Oberstufenklasse bis zur Matura, und wenn ich zur Polizei ginge, um über ihn Auskunft zu geben, wären gewiss ein oder zwei Hinweise genug, und aus dem Verdacht, er könnte der auf dem Bild sein, würde schnell eine Gewissheit. Ich müsste nur erzählen, dass er das Haus am Fluss einmal ausgerechnet im Winter zwei Monate allein bewohnt hatte, und es würde eine Einheit ausschwärmen, das Grundstück umstellen und ihn auffordern herauszukommen, selbst wenn das alles jetzt mehr als fünf Jahre her ist. Damals hatte ich selbst endgültig zu glauben begonnen, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass sich die Schlenker und Auffälligkeiten, die er sich immer wieder leistete, nicht mehr so leicht bagatellisieren ließen, wie ich es bis dahin getan hatte. Es war nach Abbruch seines Studiums gewesen, er hatte die Semester davor schon nicht mehr richtig studiert und tauchte unangemeldet bei mir auf, um mich zu fragen, ob er das Haus für ein paar Tage haben könne, keine Rede davon, dass er am Ende so lange bleiben würde. Zwar sah ich ihn verständnislos an, ging aber darauf ein, als er sagte, es sei ein Versuch, ich müsse mir keine Sorgen machen, und er kam dann zwei- oder dreimal in der Woche zum Duschen zu mir, legte den ganzen Weg zu Fuß zurück oder hielt ein Auto an und ließ sich mitnehmen. Er besorgte sich Proviant und verbrachte ein paar Stunden in einem Café oder in der Bibliothek, aus der er jeweils mehr Bücher mitnahm, als er in der kurzen Zeit auch nur annähernd bewältigen konnte, und führte ansonsten das Leben eines Einsiedlers. Das Grundmuster hatte er schon in jenem Sommer am Fluss durchgespielt, aber dass er eines Tages Ernst machen würde, noch dazu in der kältesten Zeit des Jahres, hätte ich nicht gedacht. Ich erinnerte mich wieder, wie ich manchmal, wenn es besonders kalt gewesen war, noch spätnachts einen Abstecher zu ihm hinaus unternommen hatte, aber er lehnte das Angebot, mit mir zu kommen, jedesmal ab. Er hatte ein Feuer im Ofen an, der ihm damals beim Ausbau der Mühle besonders am Herzen gelegen war, und saß in seinem Schlafsack mit einer Taschenlampe lesend davor, oder er schlief schon, und meine Schritte weckten ihn. Fast die ganze Zeit lag Schnee, und das Knirschen war in der hellhörigen Dunkelheit von weitem zu hören. Zweimal schneite es sogar, und er tappte mir unter den Bäumen entgegen und sagte, wenn ich ihn jetzt nicht um sein Leben im Wald beneidete, sei ich selber schuld.
    Es ist erschreckend, wie schlüssig man den Weg zeichnen könnte, der ihn dahin gebracht hat, aber genauso schlüssig bliebe es auch, wenn er nicht in dem Haus am Fluss gelandet wäre und wenn er danach nicht dieses unstete Leben aufgenommen hätte, von dem ich nur die äußeren Stationen kenne, sondern Professor geworden wäre, mit einem Lehrstuhl irgendwo in der Provinz, oder wenigstens Lehrer wie ich. Ein Einzelgänger, na gut, ein Bücherverrückter, ein Musterschüler mit den Lieblingsfächern Mathematik und, wie um das Maß übervoll zu machen und das Lächerliche des Ganzen zu verdeutlichen, Religion, ein harmloser Spinner, dessen Spitzname in der Schule Jesus war und den die Mädchen anschauten wie einen Marsmenschen, das war geschenkt, war eine Vorlage für jeden, der aus zwei oder drei Daten ein ganzes Leben ableiten wollte. Ich hatte es immer spöttisch seine doppelte Liebe zum Unendlichen genannt, die in den Zahlen und im Himmel ihre Erfüllung finde, wenn Dr. Prager geschwärmt hatte, Daniel könne die ersten hundert Stellen von Pi auswendig aufsagen, oder wenn Herr Bleichert verkündete, da sei einer, der das Kreuz auf sich nehmen und den Spuren des Herrn folgen werde, weil er als Vierzehnjähriger noch in der Schulmesse ministrierte oder weil er die Bibel als sein Lieblingsbuch bezeichnet hatte. Darüber konnte man schmunzeln, aber ihre Begeisterung hatte

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