Eine Ahnung vom Anfang
wahrscheinlich von der Flussmitte aus in der Nacht zu sehen war.
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Was wünscht man sich als Lehrer für seine Schüler, was kann man sich wünschen? Und hat das auch nur die geringste Auswirkung auf das, was aus ihnen einmal wird? So viele Jahre, wie ich im Schuldienst bin, bald zwanzig, so viele Jahrgänge von Schülern. Ich habe allen irgendwann die Frage gestellt, was sie sich selber für ihr Leben wünschen, ich habe alle irgendwann im letzten, manchmal auch schon im vorletzten Schuljahr gefragt, was sie werden wollen, was studieren oder, wenn nicht studieren, was sonst mit ihrer Zukunft anfangen. Ich nehme an, die späteren Klassen wussten von ihren Vorgängern, dass sie eines Tages mit einer solchen Situation zu rechnen hatten, und natürlich gab es die gequälten, gab es die spöttischen Blicke, die jeder Lehrer zu gewärtigen hat, wenn er allzu sehr menschelt und vergisst, dass man von sich aus die Distanz zu den Schülern nie aufheben kann. Ich erkundigte mich nach ihren Vorstellungen von Glück, und wenn sie dies oder das von sich gaben, angefangen mit dem Üblichen, Familie, Erfolg im Beruf und was weiß ich was sonst noch, auch wenn sie es anders nannten, entlieh ich mir bei den Mathematikern eine Formulierung und wollte wissen, ob sie das nur für notwendige oder auch für hinreichende Bedingungen hielten. Es wird immer behauptet, die Schüler seien in den vergangenen Jahren anpassungswilliger geworden, hätten klare Vorstellungen, klare Ziele, die sie auf dem schnellsten Weg erreichen wollten, hätten schon früh das Credo eingesogen, es gebe nicht für alle einen Platz im Licht, weshalb nur die Schnellsten, die Gewieftesten, vielleicht auch die Abgebrühtesten einen errangen und alle anderen sehen müssten, wo sie blieben, aber ich glaube nicht daran. Sie sind noch so jung in diesen Jahren, und hinter all den aufgesetzten Masken gab es höchstens ein Vorzittern, wenn man das so nennen kann, eine Ahnung, dass etwas an den ewigen Versprechungen nicht stimmte, die einem immer den nächsten Lebensabschnitt als den zu ersehnenden hinstellten, nach dem Kindergarten die Schule, nach der Schule das Studium, nach dem Studium den Beruf und nach dem Beruf die Rente und ein schönes Fleckchen auf dem Friedhof oder ein paar Handvoll Asche, in den Wind gestreut.
In Wahrheit weiß ich von den wenigsten, was aus ihnen geworden ist. Sie verlassen am letzten Schultag die Schule, und wenn nach den Ferien das neue Unterrichtsjahr beginnt, werden sie von keinem vermisst. Mitunter ein kurzes Nachspiel in Gesprächen mit den Kollegen, das ja, wenn einer sich besonders hervorgetan hat, aufgefallen ist in den naturwissenschaftlichen Fächern oder der Lateinlehrerin eine kodierte, jedoch leicht zu entschlüsselnde Liebeserklärung ins Schularbeitenheft gekritzelt hat oder etwas dergleichen, aber dass man ihnen nachtrauern würde, ist eine Mär, und auch dass man sich zurückgelassen fühlt, wenn sie hinausgehen, dass man jedesmal wieder die Verlassenheitsgefühle von Eltern erlebt, deren Kinder frisch aus dem Haus sind, ist nur ein naheliegendes Klischee und übersteht keine genauere Überprüfung. Man sieht manchmal einen auf der Straße wieder, erinnert sich oder erinnert sich nicht an den Namen, ein, zwei Fragen, ein, zwei Antworten, und schon ist es vorbei, Vergangenheit, und oft genug wie gar nicht gewesen. Man hört, dass einer in Wien in die Geschäftsführung einer internationalen Firma aufgestiegen sei, dass eine andere ein Studium in New York angefangen habe oder dass ein dritter zum Pressesprecher des Landeshauptmanns ernannt werden solle, und versucht vergeblich, sich die Gesichter dazu vorzustellen. Es sind erstaunlich viele, die wieder in die Stadt zurückkommen, ob von Anfang an so geplant oder ob bei ihrem Aufbruch in die große Welt gescheitert, und es sind am Ende gar nicht so wenige, die den Kreis noch enger schließen und Lehrer an ihrer ehemaligen Schule werden, die man also plötzlich als Kollegen wiedersieht, nachdem man ihnen sechs oder sieben Jahre zuvor noch gesagt hat, wenn sie sich nicht mehr Mühe gäben, würden sie sich später wundern.
Ich will nicht behaupten, dass einem die Toten am besten in Erinnerung bleiben, aber irgendwie denkt man an die jung Verstorbenen, solange sie noch leben könnten, mit einer Intensität, als wäre in der von ihnen nicht beanspruchten Zeit um so mehr Raum für sie da. Ob das bei den jährlichen Schülerzahlen viel ist, weiß ich nicht, aber es sind insgesamt
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