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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Gefallen an meiner Gesellschaft und wir führten lange Unterhaltungen miteinander. Als ich ihn zum letzten mal sah, beendete er unsere Unterhaltung mit den Worten: »Ich habe Zeit gehabt, mich umzusehen und mein Leben zu überprüfen. Die Streitfragen meiner Zeit sind heute nur noch eine Geschichte, und nicht mal eine interessante. Vielleicht habe ich Jahre meines Lebens vertan, auf der Jagd nach etwas, das es nie gegeben hat. Ich habe seit einiger Zeit das Gefühl, daß ich an eine Farce geglaubt habe. Der ganze Aufwand war für nichts. Ich glaube, das weiß ich jetzt. Trotzdem kann ich die vierzig Jahre, die ich verloren habe, nicht wiedergewinnen.«
    Ich sagte Don Juan, daß mein Konflikt von den Zweifeln herrührte, in die mich seine Worte über die kontrollierte Torheit gestürzt hatten. Wenn nichts wirklich wichtig war, dann mußte man sich, wenn man ein Wissender wird, zwangsläufig genauso leer fühlen wie mein Freund und wäre um nichts besser dran als er. »So ist das nicht«, sagte Don Juan scharf. »Dein Freund ist einsam, weil er sterben wird, ohne zu sehen. Sein Leben bestand nur daraus, alt zu werden, und jetzt hat er wahrscheinlich mehr Selbstmitleid als je zuvor. Er glaubt, er hätte vierzig Jahre weggeworfen, weil er Siege wollte und nur Niederlagen fand. Er wird nie wissen, daß siegen und besiegt werden dasselbe ist.
    Jetzt hast du Angst vor mir, weil ich dir gesagt habe, daß du allem anderen gleichzusetzen bist. Du bist kindisch. Es ist unser Los als Menschen, zu lernen, und man geht zum Wissen so wie man in den Krieg geht. Zum Wissen, wie in den Krieg, geht man mit Furcht, mit Achtung, wissend, daß man in den Krieg zieht, und mit absolutem Selbstvertrauen. Setz dein Vertrauen in dich selbst, nicht in mich. Und genauso fürchtest du dich vor der Leere im Leben deines Freundes. Aber im Leben eines Wissenden gibt es keine Leere, sage ich dir. Alles ist voll bis zum Rand.«
    Don Juan stand auf und streckte seine Arme aus, als würde er Dinge in der Luft befühlen.
    »Alles ist voll bis zum Rand, und alles ist gleich«, wiederholte er. »Ich bin nicht wie dein Freund, der nur alt wurde. Wenn ich dir sage, daß nichts wichtig ist, dann meine ich es nicht so wie er. Für ihn hat sich der Kampf nicht gelohnt, weil er besiegt wurde. Für mich gibt es keinen Sieg und keine Niederlage und keine Leere. Alles ist voll bis zum Rand, und alles ist gleich, und mein Kampf lohnt sich für mich. Um ein Wissender zu werden, muß man ein Krieger sein, kein wimmerndes Kind. Man muß kämpfen, ohne aufzugeben, ohne zu klagen und ohne zurückzuweichen, bis man sieht, nur um zu erkennen, daß nichts wichtig ist.«
    Don Juan rührte mit einem Holzlöffel im Topf. Das Essen war fertig. Er nahm den Topf vom Feuer und stellte ihn auf einen rechteckigen Ziegelblock, den er an der Wand aufgerichtet hatte und der ihm als Tisch diente. Mit dem Fuß zog er zwei kleine Kisten heran, die recht bequeme Stühle abgaben, besonders wenn man sich mit dem Rücken an die Wand lehnte. Er gab mir ein Zeichen, mich zu setzen, und schenkte eine Schale Suppe ein. Er lächelte. Seine Augen strahlten, als freute er sich wirklich über meine Anwesenheit. Er schob die Schale ganz zu mir rüber. In seiner Geste lag so viel Wärme und Freundlichkeit, daß sie mir wie eine Aufforderung erschien, wieder Vertrauen zu ihm zu fassen. Ich kam mir wie ein Idiot vor. Ich versuchte meine Stimmung zu vertreiben, indem ich meinen Löffel suchte, aber ich konnte ihn nicht finden. Die Suppe war zu heiß, um sie direkt aus der Schale zu trinken, und während sie abkühlte, fragte ich Don Juan, ob die kontrollierte Torheit bedeute, daß ein Wissender niemanden mehr lieben könne. Er hörte auf zu essen und lachte.
    Du machst dir zuviel Sorgen darüber, ob du die Leute liebst oder ob sie dich lieben«,  sagte er. »Ein Wissender liebt, das ist alles. Er liebt was und wen er will, aber seine kontrollierte Torheit hilft ihm, sich keine Sorgen darüber zu machen. Also das Gegenteil von dem, was du jetzt tust. Die Menschen zu lieben oder von ihnen geliebt zu werden, ist für einen Mann nicht das einzige, was er tun kann.« Eine Weile schaute er mich mit geneigtem Kopf an. »Denk darüber nach«, sagte er.
    »Und noch etwas möchte ich dich fragen, Don Juan. Du sagtest, daß wir mit unseren Augen schauen müssen, um zu lachen, aber ich glaube, wir lachen, weil wir denken. Nimm zum Beispiel einen Blinden. Auch er lacht.«
    »Nein«, sagte er. »Blinde lachen nicht.

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