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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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brachen jeden Morgen bei Beginn der Dämmerung auf. Die beiden alten Männer gingen zusammen in eine bestimmte, mir unbekannte Gegend der Berge und ließen mich in einem Waldgebiet zurück. Dort fühlte ich mich ungemein wohl. Ich bemerkte nicht, wie die Zeit verging, noch fand ich es störend, allein zu sein. Ich machte in diesen zwei Tagen die ungewöhnliche Erfahrung, mich ganz auf die schwierige Arbeit konzentrieren zu können, die Pflanzen zu suchen, die zu sammeln Don Juan mir aufgetragen hatte.
    Am Spätnachmittag kehrten wir zurück, und beide Male war ich so müde, daß ich sofort einschlief.
    Der dritte Tag jedoch verlief anders. Wir drei arbeiteten zusammen, und Don Juan forderte Don Genaro auf, mir zu zeigen, wie man bestimmte Pflanzen aussortiert. Wir kehrten gegen Mittag zurück, und die beiden alten Männer saßen stundenlang in tiefem Schweigen vor dem Haus, als wären sie in einem Trancezustand. Sie schliefen aber nicht. Ich ging ein paarmal um sie herum. Don Juan verfolgte meine Schritte mit den Augen, und auch Don Genaro tat dies. »Du mußt zu den Pflanzen sprechen, bevor du sie pflückst«, sagte Don Juan. Er äußerte diese Worte wie nebenher und wiederholte die Bemerkung dreimal, als wollte er meine Aufmerksamkeit erregen. Niemand hatte bis dahin ein Wort gesprochen. »Um die Pflanzen zu sehen, mußt du persönlich zu ihnen sprechen«, fuhr er fort. »Du mußt sie kennenlernen, jede einzeln. Dann können die Pflanzen dir alles sagen, was du über sie wissen willst.«
    Es war später Nachmittag. Don Juan saß auf einem flachen Stein und hatte den Blick auf die Berge im Westen gerichtet; Don Genaro saß neben ihm auf einer Strohmatte und hatte das Gesicht nach Norden gekehrt. Don Juan hatte mir gleich am Tag unserer Ankunft erzählt, daß dies ihre Stellung sei und daß ich mich irgendwo ihnen gegenüber auf den Boden setzen sollte. Er fügte hinzu, daß ich, während wir in dieser Position dasaßen, nach Südosten schauen mußte und ihnen nur kurze Blicke zuwerfen durfte.
    »Ja, so ist es mit den Pflanzen, nicht wahr?« sagte Don Juan und wandte sich an Don Genaro, der eine zustimmende Gebärde machte.
    Ich sagte ihm, daß ich seine Anweisungen deshalb nicht befolgt hatte, weil es mir ein wenig töricht vorkam, mit den Pflanzen zu sprechen.
    »Du darfst nicht vergessen, daß ein Zauberer keine Witze macht«, sagte er ernst. »Wenn ein Zauberer zu sehen versucht, dann versucht er Macht zu gewinnen.« Don Genaro starrte mich an. Ich machte Notizen, und das schien ihn zu verblüffen.
    Er lächelte mir zu, schüttelte den Kopf und sagte etwas zu Don Juan. Don Juan zuckte mit den Schultern. Mich schreiben zu sehen, muß ein komischer Anblick für Don Genaro gewesen sein. Don Juan war, glaube Ich, daran gewöhnt, daß ich mir Notizen machte, und die Tatsache, daß ich schrieb, während er sprach, befremdete ihn nicht mehr; er konnte weitersprechen, ohne auf mein Tun zu achten. Don Genaro aber lachte dauernd, und ich mußte aufhören zu schreiben, wenn ich das Gespräch nicht in Gefahr bringen wollte.
    Don Juan betonte nochmals, daß man die Handlungen eines Zauberers nicht für einen Witz halten solle, denn ein Zauberer spiele immer mit dem Tod. Dann erzählte er Don Genaro die Geschichte, wie ich einmal, nachts, auf einer unserer Reisen die mich verfolgenden Lichter des Todes gesehen hatte. Die Geschichte war anscheinend äußerst komisch; Don Genaro wälzte sich lachend am Boden. Don Juan entschuldigte sich bei mir und sagte, ein derart explosives Gelächter sei bei seinem Freund keine Seltenheit. Ich warf einen Blick zu Don Genaro hinüber, der sich, wie ich glaubte, immer noch am Boden wälzte, aber ich sah, daß er etwas ganz Außerordentliches tat: Er stand auf dem Kopf, ohne sich mit den Händen oder Ellbogen abzustützen, und seine Beine waren wie in einer sitzenden Haltung verschränkt. Dieser Anblick war so ungewöhnlich, daß ich in die Höhe fuhr. Als ich erkannte, daß er etwas tat, was unter dem Gesichtspunkt der Körpermechanik so gut wie unmöglich war, saß er schon wieder in normaler Stellung da. Don Juan schien jedoch bemerkt zu haben, was er tat, und feierte Don Genaros Vorführung mit brüllendem Gelächter.
    Don Genaro hatte meine Verwirrung bemerkt; er klatschte ein paarmal in die Hände und wälzte sich wieder auf dem Boden. Anscheinend wollte er, daß ich ihn beobachtete. Was zuerst so ausgesehen hatte, als wälze er sich auf dem Boden, war in Wirklichkeit ein

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