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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ich in der Gegenwart meiner Mitmenschen begehe. Ich sage dies, weil ich meine Mitmenschen sehen kann. In meinen Verbündeten kann ich jedoch nicht hineinsehen, und das macht ihn für mich unbegreiflich, denn wie könnte ich meine Torheit kontrollieren, wenn ich nicht in ihn hineinsehe? Bei meinem Verbündeten oder bei Mescalito bin ich nur ein Mensch, der sehen kann und feststellt, daß er verwundert ist über das, was er sieht. Ein Mann, der weiß, daß er nie alles um ihn her verstehen wird. Nimm dich, zum Beispiel. Mir macht es nichts aus, ob du ein Wissender wirst oder nicht. Aber Mescalito macht es etwas aus. Ganz offensichtlich macht es ihm etwas aus, denn sonst würde er sich nicht soviel Mühe geben, dir zu zeigen, wieviel du ihm bedeutest. Ich kann seine Anteilnahme bemerken und handle dementsprechend, auch wenn mir seine Gründe unbegreiflich sind.«

6.
5. Oktober 1968
    Wir wollten gerade in mein Auto steigen und zu einer Reise nach Zentralmexiko aufbrechen, als Don Juan mich zurückhielt.
    »Ich habe dir schon gesagt«, meinte er mit ernstem Gesicht, »daß man nie den Namen oder Aufenthalt eines Zauberers weitersagen darf. Ich glaube, du hast begriffen, daß du nie meinen Namen oder den Ort verraten darfst, an dem mein Körper sich befindet. Und jetzt bitte ich dich, dasselbe bei einem Freund von mir zu beachten, einem Freund, den du Genaro nennen wirst. Wir fahren zu ihm und werden dort einige Zeit bleiben.«
    Ich versicherte Don Juan, daß ich sein Vertrauen nie gebrochen hatte.
    »Das weiß ich«, sagte er, ohne seinen ernsten Gesichtsausdruck zu verändern, »ich  mache mir nur Sorgen, daß du gedankenlos sein könntest.«
    Ich protestierte, und Don Juan sagte, er habe mich nur daran erinnern wollen, daß man immer, wenn man in Fragen der Zauberei unachtsam ist, mit seinem sofortigen und sinnlosen Tod spielt, den man vermeiden könne, wenn man sich bedacht und bewußt verhielt.
    »Wir wollen uns nicht mehr damit aufhalten«, sagte er. »Sobald wir das Haus verlassen, werden wir nicht mehr über Genaro sprechen oder an ihn denken. Ich möchte, daß du jetzt deine Gedanken ordnest. Wenn wir ihn treffen, mußt du einen klaren Kopf haben, und deine Seele darf keine Zweifel kennen.«
»Auf welcherart Zweifel spielst du an, Don Juan?«
»Jede Art von Zweifeln. Wenn du ihm begegnest, solltest du klar wie ein Kristall sein. Er wird dich sehen.« Diese eigenartige Warnung beängstigte mich. Ich wandte ein, vielleicht sollte ich seinem Freund überhaupt nicht begegnen, sondern ihn nur in die Nähe von Genaros Haus bringen und dort absetzen.
    »Was ich dir gesagt habe, war nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte er. »Du bist schon einmal einem Zauberer begegnet, Vicente, und er hätte dich beinahe getötet. Gib diesmal acht.«
    Nachdem wir in Zentralmexiko angekommen waren, brauchten wir noch zwei Tage, um von dort, wo ich mein Auto abgestellt hatte, zum Haus seines Freundes zu gehen, einer kleinen Hütte, die an einem Berghang klebte. Don Juans Freund stand im der Tür, als erwartete er uns. Ich erkannte ihn sofort. Ich hatte ihn schon einmal kennengelernt, wenn auch nur sehr kurz, als ich Don Juan mein Buch brachte. Damals hatte ich ihn, abgesehen von einem kurzen Blick, nicht näher angesehen, so daß ich den Eindruck hatte, daß er so alt wie Don Juan war. Wie er dort an seiner Haustür stand, stellte ich jedoch fest, daß er wesentlich jünger war. Er war vielleicht Anfang Sechzig. Er war kleiner als Don Juan und auch schlanker, sehr dunkel und drahtig. Sein Haar war dicht und leicht angegraut und ziemlich lang. Es wuchs ihm über die Ohren und die Stirn. Eine sehr imposante Nase gab ihm das Aussehen eines Raubvogels mit kleinen, dunklen Augen.
    Zuerst sprach er Don Juan an. Don Juan nickte bestätigend. Sie unterhielten sich kurz. Sie sprachen nicht spanisch, so daß ich nicht verstehen konnte, was sie sagten. Dann wandte sich Don Genaro an mich.
    »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, sagte er entschuldigend auf spanisch. Seine Worte waren eine höfliche Redensart, die ich schon vorher in verschiedenen ländlichen Gegenden Mexikos gehört hatte. Aber als er diese Worte aussprach, lachte er ohne jeden ersichtlichen Grund, und ich wußte, daß er sich in der kontrollierten Torheit übte. Es machte ihm nicht das geringste aus, daß sein Haus nur eine Hütte war. Don Genaro gefiel mir sehr.
    An den nächsten beiden Tagen gingen wir in die Berge, um Pflanzen zu sammeln. Don Juan, Don Genaro und ich

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