Eine Art von Zorn
22.00 Uhr
In der Schaltzentrale des Elektrizitätswerks sitzt in dieser kalten Winternacht der diensthabende Kontrollbeamte Martin Brünner (54). Unaufhörlich gleitet sein Blick über die Zähler und Meßgeräte auf dem Kontrollbrett vor ihm, während er langsam eine Tasse Schokolade trinkt.
Tagsüber hatte Tauwetter geherrscht. Am Abend war es wieder kälter geworden. Er rechnet deshalb mit Störungen.
Aber nicht mit solchen, wie sie ihm widerfahren.
Plötzlich flackert ein Warnlicht auf.
Das Notsignal!
Die Finger des Kontrollbeamten bewegen sich schnell und sicher. Die Warnlampe hat eine Stromunterbrechung im Villenviertel auf dem Zürichberg angezeigt – in einem Unterwerk ist durch Kurzschluß der Transformator ausgefallen. In wenigen Sekunden hat der Kontrolleur den Kurzschluß überbrückt und das Gebiet wieder mit Strom versorgt.
Die Reichen dürfen so wenig wie möglich inkommodiert werden.
Zu diesem Zweck müssen die gewöhnlichen Leute arbeiten.
Kontrolleur Brünner vermutet einen Fehler in der Isolation. Der Pikettdienst muß ihn beheben. Der Kontrolleur erteilt den Befehl. Eine Minute später sind die Männer, leise fluchend, zu ihrer Arbeit unterwegs.
Der Leiter des Trupps ist Hans Dietz (36), verheiratet, zwei Kinder. Er sitzt neben dem Fahrer des Servicewagens. Im Fond, zwischen Werkzeugen und Kabeln, sitzen die zwei andern Männer.
Das Unterwerk befindet sich auf einem Hügel, dicht bei einer Außenradarstation des internationalen Flughafens Zürich-Kloten. Um die Zufahrt zu erreichen, kurven sie die Waldseestraße hinauf, die auf der einen Seite jäh zum See hinabfällt, an der andern von den Mauern alter Villengrundstücke begrenzt ist.
Die Einfahrt zur Nr. 16, der Villa Consolazione, ist wenige Meter von einer Haarnadelkurve entfernt. Die Stadtverwaltung hat als Sicherheitsmaßnahme an der Seeseite der Kurve einen großen Spiegel aufgestellt, in welchem die talwärts Fahrenden die Einfahrt sehen können.
In dieser Nacht jedoch ist der Spiegel vereist.
Auf dem Weg nach oben begegnen sie keinem Wagen. Glücklicherweise, denn auf beiden Seiten liegt der gefrorene Schnee in hohen Haufen, und die Straße wäre für zwei Wagen zu schmal. Da sie vereist ist, müssen sie langsam fahren. Die Villa Consolazione ist von der Straße her kaum zu sehen. Sie achten nicht darauf, ob in den Villen Licht brennt.
Warum sollten sie auch? Sie haben ihre Arbeit zu verrichten.
Sie erreichen das Unterwerk kurz vor 23.00 Uhr. Sie brauchen mehr als zwei Stunden, bis sie den Fehler ausfindig gemacht und ihn behoben haben. Dann spricht Dietz per Funk mit dem Kontrolleur und ersucht um einen Test. Es ist jetzt 1.35 Uhr.
Drei Minuten später beginnt der müde Trupp seine Geräte in den Servicewagen zu verladen. Das Unterwerk funktioniert wieder. Sie fahren zurück. Genau um 02.00 Uhr biegen sie wieder in die Waldseestraße ein.
Sie fahren im ersten Gang hinunter, genauso langsam, wie sie hinaufgefahren sind – 10 km pro Stunde, nicht schneller.
Da, plötzlich, sieht Dietz die Gefahr!
Ein Auto kommt die Auffahrt zur Villa Consolazione herunter. Es fährt mit rasender Geschwindigkeit! Dietz sieht, wie seine Scheinwerfer die Schneehaufen anstrahlen. Großer Gott! Er ruft dem Fahrer eine Warnung zu. Der Fuß tritt die Bremse durch.
Zu spät! Der schwere Servicewagen kommt ins Schleudern und rutscht über das Eis. Alle vier Räder sind blockiert. Einen Augenblick später saust das Auto aus der Auffahrt, wird über die Straße getragen und streift die vordere Stoßstange des Servicewagens.
Der Zusammenstoß ist leicht und schadet dem Personenwagen wenig.
Für den rutschenden Servicewagen ist er eine Katastrophe.
Er dreht sich, rammt einen der massiven steinernen Torpfosten, prallt gegen den entlang der Mauer aufgehäuften harten Schnee und kippt um. In dem Schneehaufen an der Seeseite der Straße kommt er zum Stehen.
Das Auto fährt ohne anzuhalten die Straße hinunter. Aber im Moment des Zusammenstoßes hat Dietz im Scheinwerferlicht des Servicewagens Auto und Fahrer deutlich gesehen.
Das Auto ist ein schwarzer Mercedes 300 S.
Der Fahrer ist eine junge Frau.
Dietz und der Mann am Steuer sind mit ein paar Schrammen davongekommen. Die beiden Männer im Fond haben Pech gehabt. Einer hat ein gebrochenes Schlüsselbein, der andere eine Kopfverletzung, die stark blutet und genäht werden muß.
Während der Fahrer mit Hilfe des Verbandkastens die Verwundeten verarztet, klettert Dietz in die Kabine und
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