Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Selbstbild : ein Bild davon, wie wir uns selbst sehen.
Zu unserer Erfahrung als Subjekte gehört die Entdeckung, daß es in einem Leben viel mehr an Gedanken, Gefühlen, Phantasien und Wünschen gibt, als die äußere Biographie zeigt. Und auch, als die innere, bewußte Biographie zeigt. Mit der Zeit lernen wir, daß es eine Dimension von Motiven für unser Tun gibt, die im dunkeln liegen, und daß es im Leben eines Subjekts darum gehen kann, sich dieser Motive bewußt zu werden. Nicht, daß Subjekte unablässig damit beschäftigt sein müßten. Auch kann es gute Gründe geben, einiges im dunkeln zu lassen, sogar für immer. Aber es kennzeichnet ein Subjekt, daß es von der Existenz unbewußter, verborgener Motive weiß und von der Möglichkeit, den Radius der Selbsterkenntnis nach innen zu vergrößern.
Das Selbstbild, das wir als Subjekte haben, ist nicht nur ein Bild davon, wie wir sind , sondern auch eine Vorstellung davon, wie wir sein möchten und sein sollten . Zu unseren Fähigkeiten als Subjekten gehört das Vermögen, uns selbst bewertend zum Thema zu machen und uns zu fragen, ob wir mit unserem Tun und Erleben zufrieden sind: ob wir es gutheißen oder verwerfen. Es gehört zur Natur eines Subjekts, daß es einen Konflikt erleben kann zwischen dem, was es ist, und dem, was es sein möchte, und daß es an sich scheitern kann. Ein Subjekt ist deshalb ein Wesen, das der inneren Zensur fähig ist: fähig, sich Handlungen, aber auch schon Gedanken, Wünsche, Gefühle und Phantasien zu verbieten . Kraft dieser Fähigkeit ist es ein Wesen, das sich etwas vorwerfen kann. Subjekte können im inneren Zwist mit sich leben, und sie können sich fragen, ob sie sich für das, was sie tun und erleben, achten können oder verachten müssen.
Es kennzeichnet ein Subjekt, daß es sich auf diese Weise in Frage stellen kann, statt wie ein Getriebener nur vor sich hin zu leben. Und es bleibt nicht bei der Frage stehen. Subjekte können sich nicht nur fragend um sich kümmern, sondern auch planvoll Einfluß auf sich nehmen und sich in ihrem Tun und Erleben in eine gewünschte Richtung verändern . Weil wir nicht nur das Opfer eines blind dahinfließenden Erlebens sind, sondern uns aus einer reflektierenden Distanz heraus beurteilen können, ist es uns möglich, eine neue Art des Denkens, Wünschens und Fühlens ins Auge zu fassen und Schritte zu einer solchen Veränderung zu unternehmen. Dann machen wir etwas mit uns und für uns . Man könnte sagen: Wir arbeiten an unserer seelischen Identität .
Jetzt verfügen wir über ein erstes, noch skizzenhaftes Bild davon, was es heißt, ein Subjekt zu sein. Dieses Bild wird im Laufe des Buches immer detaillierter, reicher und dichter werden. Die Erfahrungen, die wir mit unserer Würde machen, sind aufs engste verknüpft mit den Erfahrungen, die wir mit uns als Subjekten machen. Wenn unsere Würde in Gefahr ist, dann liegt es oft daran, daß unser Leben als Subjekt in Gefahr ist. Wenn wir den einzelnen Bedrohungen und Verteidigungen unserer Würde nachspüren, so werden wir ganz von selbst immer tiefer in die Erfahrungen eindringen, die zu uns als Subjekten gehören.
Ein Selbstzweck sein
Als Subjekte wollen wir nicht bloß benutzt werden. Wir wollen nicht bloßes Mittel zu einem Zweck sein, den andere setzen und der ihr Zweck ist und nicht der unsere. Wir wollen, könnte man sagen, als Zweck an sich oder Zweck in sich selbst, als Selbstzweck , betrachtet und behandelt werden. Wenn man uns nicht so behandelt, ist das nicht nur unangenehm. Es ist viel mehr: Wir fühlen uns als Subjekte mißachtet oder sogar vernichtet. Wenn das geschieht, so erleben wir es als den Versuch, uns die Würde zu nehmen. In dem Maße, in dem unsere Würde davon abhängt, wie andere uns behandeln, ist sie in der Erwartung, dem Anspruch und dem Recht begründet, nicht bloß als Mittel zu einem Zweck benutzt, sondern als Selbstzweck behandelt zu werden.
Auf einer Reise kam ich an einem Jahrmarkt vorbei und sah dort etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte: einen Wettbewerb im Werfen von Zwergen. Ein kräftiger Mann packte einen der kleingewachsenen Menschen und schleuderte ihn so weit wie möglich auf eine weiche, federnde Matte. Der Geworfene trug eine gepolsterte Schutzkleidung mit Griffen und einen Helm. Die gaffende Menge klatschte und johlte bei jedem Wurf. Der weiteste Wurf war fast vier Meter. Ich erfuhr, daß der Geworfene bei der Weltmeisterschaft im Zwergenwerfen dabeigewesen war.
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