Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
andere als einfach und klar. Auch ist sie keine einheitliche Erfahrung, keine Erfahrung aus einem Guß. Selbständig sein – das kann sehr vieles und sehr Verschiedenes bedeuten. Wenn wir die Idee der menschlichen Würde ausloten wollen, indem wir die Lebensform nachzeichnen, von der sie handelt, müssen wir uns die Vielfalt von Erfahrungen vergegenwärtigen, die sich hinter den einfachen, suggestiven Worten verbirgt. Wir sind nicht allein und können nicht alles allein machen. Wir hängen auf vielfältige Weise von anderen ab und sie von uns. Wir sind auf sie angewiesen. Was davon schafft natürliche menschliche Beziehungen, ohne die wir nicht sein möchten? Und was davon erleben wir als Abhängigkeit, die unsere Würde bedroht?
Ein Subjekt sein
Um dieser Frage gewachsen zu sein, brauchen wir eine begriffliche Geschichte, die uns in Erinnerung bringt, was für Wesen wir sind, welche Art von Selbständigkeit wir anstreben und warum sie so wichtig für uns ist. Es muß eine Geschichte darüber sein, was es bedeutet, ein Subjekt zu sein. Welche Fähigkeiten führen dazu, daß wir uns als Subjekte erleben – im Unterschied zu Objekten, Gegenständen, Dingen oder bloßen Körpern?
Jeder von uns ist ein Zentrum des Erlebens . Es ist irgendwie, es fühlt sich auf bestimmte Weise an, ein Mensch zu sein. Menschen sind körperliche Wesen mit einer Innenperspektive, einer Innenwelt. Sie hat mehrere Dimensionen. Die einfachste ist diejenige des körperlichen Empfindens. Dazu gehören das Gespür für die Lage des Körpers und seine Bewegungen, aber auch die typischen körperlichen Empfindungen wie Begierde, Lust und Schmerz, Hitze und Kälte, Schwindel und Ekel, Leichtigkeit und Schwere. Hinzu kommen die Erfahrungen, die wir mit den Sinnen machen: was wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Eine weitere Schicht des Erlebens bilden die Gefühle: Freude und Angst etwa, oder Neid und Eifersucht, Trauer und Melancholie. Eng verwoben damit ist das Muster unserer Wünsche: In dem, was wir wünschen, kommt zum Ausdruck, was wir fühlen. Und unsere Wünsche sind ablesbar an dem, was wir uns vorstellen: an unserer Phantasie und unseren Tagträumen. Dieses gesamte Erleben hat eine zeitliche Dimension: Es ist eingebettet in Erinnerungen und in einen Entwurf für das zukünftige Leben mit seinen Hoffnungen und Erwartungen. Aus alledem entwickelt sich das gedankliche Bild, das wir uns von der Welt machen: das, was wir darüber denken und glauben, was wir für wahr und falsch halten, für begründet und unbegründet, für vernünftig und unvernünftig.
Das also ist das eine, was es heißt, ein Subjekt zu sein: in diesem Sinne ein Zentrum des Erlebens zu sein, oder, wie man auch sagen kann: ein Wesen mit Bewußtsein . Aus diesem Erleben heraus entsteht unser Verhalten. Es gibt unwillkürliches Verhalten, das bloße Bewegung ist: ein Zucken, ein Krampf, ein Lidschlag. Es kann eine erlebte Innenseite haben und also gespürtes Verhalten sein, aber es entspringt nicht diesem Erleben und ist nicht sein Ausdruck . Erst wenn ein Verhalten Ausdruck eines Erlebens ist, ist es eine Handlung . Was an Erleben hinter der Handlung steht und sich in ihr äußert, sind die Motive für die Handlung: Ich tue etwas, weil ich etwas fühle und wünsche, weil ich mich an etwas erinnere und mir etwas vorstelle, weil ich etwas überlegt habe und glaube. Wenn es so ist, dann bin ich der Urheber meines Verhaltens, ich bin ein Täter , der sein Tun aus seinem Erleben heraus entwickelt. Und die Motive, die mich leiten, geben meiner Handlung ihren Sinn .
Wir können die Motive unseres Tuns zur Sprache bringen. Wir können Worte für unser Erleben finden und sagen, aus welchen Gedanken, Wünschen und Gefühlen heraus wir handeln. Auf diese Weise können wir uns in unserem Tun verständlich machen, sowohl für die anderen als auch für uns selbst. Wir können Geschichten über unsere Motive erzählen, die von einzelnen Handlungen oder längeren Abschnitten unseres Tuns handeln. Wir sind Wesen, die ihr Leben in diesem Sinne erzählen können. Ein Subjekt, könnte man sagen, ist ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft: Wir sind diejenigen, von denen unsere Motivgeschichten handeln. Es sind Erinnerungsgeschichten, Geschichten über gegenwärtiges Erleben und Geschichten über das, was wir uns als unsere Zukunft vorstellen. Geschichten darüber, wo wir herkommen, wie wir wurden, was wir sind, und was wir vorhaben. In solchen Geschichten entsteht ein
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