Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Nichts an der Art, wie sie behandelt werden, läßt ihnen die Chance, als Selbstzweck zu leben – so, wie wir es Haustieren zugestehen und wie Tiere in der Natur es können. Wenn wir den Schlachthof verlassen, so ist uns nicht nur wegen des Bluts und des Gestanks übel. Es ekelt uns, weil uns auf drastische Weise zu Bewußtsein gebracht wurde, was wir auch so schon wissen konnten: daß es auch bei Tieren eine Behandlung gibt, die man als würdelos empfinden kann. Und wenn wir es so empfinden, dann deshalb, weil wir den vorhin besprochenen Maßstab anlegen: daß die Würde darin besteht, nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck in sich selbst behandelt zu werden.
Und wenn es freiwillig geschieht?
Abends, nach der Veranstaltung, habe ich den Star des Zwergenwurfs bei seinem Wohnwagen getroffen.
»Daß Sie das aushalten!«, sagte ich.
»Kein Problem«, sagte er, »man fällt weich.«
»Das meine ich nicht«, sagte ich. »Ich meine nicht die Gefahr.«
»Was dann?«
»Die Würde.«
»Wovon reden Sie?«
»Davon, daß man Sie beim Werfen als bloßen Gegenstand behandelt, als bloßes Ding.«
»Manchmal wirft man Kinder. Sie quietschen vor Vergnügen.«
»Das ist etwas anderes: Da werden sie nicht als bloße Gegenstände behandelt, sondern als Wesen, denen man ein Vergnügen bereitet; es geht dabei um sie selbst, um das, was sie erleben .«
»Haben Sie den Jungen gesehen, der mit der Kippschaukel ganz oben auf die Pyramide der Männer katapultiert wird? Der wird doch auch geschleudert, und nicht wegen seines Vergnügens.«
»Er tut etwas dabei: dreht sich auf bestimmte Weise, rudert. Er hat dafür lange trainiert ; er führt ein Können vor; er ist ein Artist .«
»In der nächsten Stadt gibt es einen Zirkus, da wird einer durch ein Kanonenrohr weit in den Raum hinausgeschleudert und fällt dann einfach ins Netz.«
Ich hatte so etwas zu Hause gesehen, als Kind. Damals war ich ganz aufgegangen im Gefühl der Sensation und im Nervenkitzel der Gefahr, der sich der Mann aussetzte. Jetzt zögerte ich. Schließlich sagte ich:
»Der Mann wird von niemandem geworfen . Es legt niemand Hand an . Er überläßt sich einer Maschine .«
»Und das stört Sie weniger? Er tut doch auch nichts. Auch mit ihm geschieht nur etwas.«
»Ja, schon«, sagte ich, »aber Sie… Sie packt man. Es ist dann so klar, daß man Sie benutzt , und daß es nur darum geht: Sie zu benutzen.«
»Benutzen? Wozu?«
»Zur Unterhaltung. Zum Gaudi.«
»Wenn ein Clown einem anderen ein Bein stellt, so wird der auch benutzt, um das Publikum zum Lachen zu bringen. Und auch Schauspieler …«
»Das ist etwas anderes: Da wird gespielt , ein geteiltes Spiel, zu dem alle selbst etwas beitragen . Sie dagegen unterhalten nicht durch das, was Sie tun , sondern durch das, was mit Ihnen geschieht . Sie werden dadurch zum bloßen Spielzeug für andere.«
Jetzt bekamen seine Augen ein gefährliches Glitzern.
»Ich will Ihnen mal was sagen: Wenn einer so aussieht wie ich, dann hat er es verdammt schwer, sein Geld zu verdienen. Sie haben gut reden, Sie können aus tausend Tätigkeiten auswählen, ich nicht. Wer stellt schon einen Zwerg an? Und noch etwas: Ich stelle mich der Show freiwillig zur Verfügung. Ich war es, der darüber bestimmt hat, mich werfen zu lassen. Okay, drücken Sie es meinetwegen so aus, daß ich für das Vergnügen anderer benutzt werde. Aber ich habe mich entschieden, mich benutzen und begaffen zu lassen . Es war meine freie Entscheidung. Meine freie Berufswahl – auch wenn Sie den Ausdruck wahrscheinlich lächerlich finden. Und deshalb können Sie nicht daherkommen und etwas von verlorener Würde faseln. Haben Sie von Manuel gehört? Von Manuel Wackenheim, dem französischen Zwerg? Er ist bis vor die UNO gezogen, um sich sein Recht, im Zirkus geworfen zu werden, zu erkämpfen. Er hat verloren. Es verstoße gegen die Würde des Menschen, sagten die Richter. Ich frage Sie: Und was ist mit der Würde, die in der Freiheit der Entscheidung liegt?«
Wir werden später in diesem Kapitel sehen, wie wichtig die Möglichkeit des freien Entscheidens für die Erfahrung der Würde als Selbständigkeit ist. Wenn sie eingeschränkt oder vernichtet wird, ist die Würde in Gefahr. Freies Entscheiden ist eine notwendige Bedingung für Würde. Ist es auch eine hinreichende Bedingung? Das oberste Gericht, das über den Zwergenwurf zu befinden hatte, dachte das nicht: Die Freiheit der Entscheidung schafft nicht durch sich selbst schon Würde. Es
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