Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Sprünge, Unklarheiten und Unstimmigkeiten. Die Würde des Menschen zu verstehen, heißt nicht, diese Unvollkommenheiten zu übertünchen und wegzudeuten. Es heißt, sie anzuerkennen und in ihrer unübersichtlichen Logik aufzuklären. Auch einzelne Erfahrungen der Würde sind nicht immer unzweideutig und bruchlos. Und es gibt Konflikte zwischen verschiedenen Erfahrungen, so daß es zu Dilemmata der Würde kommen kann. Die einzelnen Erfahrungen sind nicht kristallin – Erlebnisse mit glasklaren, scharfen Konturen. Die Intuitionen über gewahrte und verlorene Würde sind oft unscharf und verlaufen an den Rändern, wie Aquarellfarben vor dem Trocknen.
Ich hatte kein Bedürfnis, eine Theorie der Würde vorzutragen. Ich bin nicht sicher, daß wir so etwas überhaupt brauchen. Ich wollte niemandem vorschreiben, wie er über diese wichtige Dimension seines Lebens zu denken hätte. Überhaupt ging es mir nicht darum, recht zu haben. Das Buch ist in der Tonlage des gedanklichen Ausprobierens geschrieben. Nicht beweisen wollte ich, sondern sichtbar und verstehbar machen. Es ging um Vergegenwärtigung von vertrauten Erfahrungen. Sie wollte ich so reich und so genau wie möglich zur Sprache bringen. Es kam darauf an, über konkrete Menschen in konkreten Situationen zu sprechen, um in einem letzten Schritt dann zu abstrakteren Beschreibungen zu gelangen. Man kann sich dabei leicht verlaufen und in verquere Überlegungen verstricken. Ich habe versucht, dieses Bewußtsein für den Leser wachzuhalten. Und noch eine andere Art von kritischer Distanz findet sich an manchen Stellen: Sind wir sicher, frage ich mich dort, daß etwas eine echte Erfahrung ist und nicht nur eine Wortspiegelung, eine sprachliche Fata Morgana? Etwas, was wir uns bloß einreden? Der Zweifel, wie ein Irrlicht, ist nie ganz zu bändigen.
Sind andere begriffliche Geschichten als die meine denkbar? Vielleicht im Rahmen anderer Kulturen? Es würde mich überraschen, wenn es eine gäbe, die wirklich ganz anders wäre: eine, in der nichts von dem vorkäme, was hier vorkommt, sondern eine Reihe vollständig anderer Erfahrungen. Aber es könnte Varianten geben: andere Akzente, andere Bewertungen, auch andere Verknüpfungen von Themen, die ich nicht gesehen habe, und Zweifel an Verknüpfungen, die ich als gegeben betrachtet habe.
Die Erfahrung des Schreibens war die Erfahrung einer Gedankenbewegung, die unabgeschlossen und fortsetzbar blieb. Wenn ich Glück habe, überträgt sich diese Offenheit auch auf die Erfahrung des Lesers, der eigenes Erleben aufruft und das, was er liest, daran mißt. Mein Ziel beim Komponieren des Texts war, den Leser in meine Gedankengänge zu verwickeln und ihn zum Komplizen zu machen im leidenschaftlichen Versuch, Klarheit zu gewinnen. Ich wünschte mir, der Leser würde nicht nur von den Gedanken selbst, sondern auch von der Melodie dieses Nachdenkens mitgenommen und verführt.
»Nichts von dem, was ich gelesen habe, war mir wirklich neu. Vieles habe ich wiedererkannt. Aber ich bin froh, daß einer es in Worte gefaßt und im Zusammenhang dargestellt hat. Und froh bin ich auch, daß er nicht verschweigt, wie vieles an den Rändern der Gedanken unklar und unsicher bleibt.«
Wenn es Leser geben sollte, die mir so etwas sagen, dann würde ich denken: Ich hab’s richtig gemacht.
1.
Würde als Selbständigkeit
Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen selbst entscheiden können, was wir tun und lassen. Wir möchten nicht von der Macht und dem Willen anderer abhängig sein. Wir möchten nicht auf andere angewiesen sein. Wir möchten unabhängig und selbständig sein. All diese Worte beschreiben ein elementares Bedürfnis – eines, das wir aus unserem Leben nicht wegdenken können. Es mag Zeiten geben, in denen dieses Bedürfnis durchkreuzt wird, und diese Zeiten können lang sein. Doch das Bedürfnis bleibt. Es ist der innere Kompaß unseres Lebens. Viele Erfahrungen, die ein Mensch mit seiner Würde macht, entspringen diesem Bedürfnis. Situationen der Unselbständigkeit, der Abhängigkeit und der Ohnmacht sind Situationen, in denen wir das Gefühl haben, daß unsere Würde verlorengeht. Dann tun wir alles, um die Abhängigkeit und Ohnmacht zu überwinden und die verlorene Selbständigkeit zurückzugewinnen. Denn wir sind sicher: Darin liegt die Würde begründet.
Doch so einfach und klar die Worte auch klingen, mit denen wir diese Selbständigkeit erläutern und beschwören: Die Erfahrung, um die es geht, ist alles
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