Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
der über meine Würde entscheidet. Es geht um die Art, wie ich zu mir selbst stehe. Die Frage, die man sich stellen muß, lautet: Welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die Erfahrung der Würde? Und wann habe ich das Gefühl, meine Würde durch die Art und Weise zu verspielen, wie ich mich zu mir selbst verhalte?
Wie behandeln mich die anderen? Wie stehe ich zu den anderen? Wie stehe ich zu mir selbst? Drei Fragen, drei Dimensionen der Erfahrung und drei Dimensionen der Analyse. Sie alle fließen im Begriff der Würde zusammen. Das gibt dem Begriff seine besondere Dichte und sein besonderes Gewicht. Die drei Dimensionen lassen sich gedanklich klar trennen. In der Erfahrung gewahrter, beschädigter oder verspielter Würde greifen sie ineinander. Erfahrungen, in denen unsere Würde auf dem Spiel steht, besitzen oft diese besondere Komplexität: Die Art, wie wir zu uns selbst stehen, prägt unsere Einstellung zu den anderen, und dieser Zusammenhang prägt die Weise und das Ausmaß, in denen die anderen über unsere Würde bestimmen können. Würde ist eine vielschichtige Erfahrung. Die Schichten überlagern sich manchmal und werden als getrennte Schichten unkenntlich. Es ist die Aufgabe einer begrifflichen Vergegenwärtigung, sie als unterschiedliche Erfahrungen sichtbar zu machen.
Den Verlust unserer Würde erleben wir als ein Unglück im Sinne eines Makels . Es ist nicht irgend ein Makel, an den wir uns gewöhnen und den wir innerlich auf Distanz halten könnten. Neben dem Makel einer großen, untilgbaren Schuld ist es der zweite Makel, der den Willen in Frage stellen kann, das Leben fortzusetzen. Wir haben etwas an unserem Leben verloren, ohne das dieses Leben nicht mehr wert scheint, gelebt zu werden. Der Verlust wirft einen Schatten über das Leben, der es so verdunkelt, daß wir es gar nicht mehr leben, sondern nur noch aushalten könnten. Wir spüren: Damit kann ich nicht weiterleben. Ich wollte herausfinden: Worin besteht dieses hohe Gut der Würde, und was macht den Makel seines Verlusts so bedrohlich?
Das konnte nicht bedeuten, nach einer Definition für den Begriff der Würde zu suchen: nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, wann jemand seine Würde wahrt und wann er sie verliert. Das ist es nicht, was wir wissen wollen. Das ist nicht die Genauigkeit und Transparenz, die wir suchen. Was wir im einzelnen verstehen und in der Übersicht erkennen wollen, ist, wie das Geflecht von Erfahrungen beschaffen ist, das wir mit dem Begriff der Würde verknüpfen. Dabei hat mir eine Frage geholfen, die mir um so dringlicher erschien, je länger ich mit dem Sammeln von Erfahrungen unterwegs war: Warum haben wir die Lebensform der Würde erfunden ? Worauf ist sie eine Antwort ? Der Gedanke, der sich langsam herausbildete, lautet: Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten. Es gilt, unser stets gefährdetes Leben selbstbewußt zu bestehen . Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die lautet: Ich nehme die Herausforderung an . Die Lebensform der Würde ist deshalb nicht irgend eine Lebensform, sondern die existentielle Antwort auf die existentielle Erfahrung der Gefährdung.
Auf diese Weise ist das Buch zu einer Vergewisserung über das menschliche Leben insgesamt geworden – zu einer Antwort auf die Frage: Was ist das eigentlich für ein Leben, das wir da als Menschen leben müssen? Worin bestehen seine Zumutungen? Und wie können wir sie am besten bestehen? Manchmal hat mir dabei eine Metapher geholfen: Gleichgewicht . Manche Versuche, Gefährdungen zu trotzen, fühlen sich wie Versuche an, in einem schwierigen Kräftefeld das Gleichgewicht zu bewahren. Das Verlieren und Wiedergewinnen der Würde hat etwas von verlorenem und wiedergewonnenem Gleichgewicht. Eine unwiderruflich verlorene Würde ist ein verlorenes Gleichgewicht, das nie wiederherzustellen ist. Für dieses besondere Gleichgewicht steht der Begriff der Würde. Er ist unverzichtbar. Fehlte er uns, könnten wir etwas Wichtiges an unserer Erfahrung gedanklich nicht fixieren und nicht zur Sprache bringen. Es wäre, als hätten wir einen blinden Fleck im gedanklichen Blickfeld.
Die Lebensform der Würde ist nicht aus einem Guß. Es gibt darin Risse und
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