Eine betoerende Schoenheit
benötigt hätten, möglicherweise mehrere Schaubilder …
Die Einführungsrede neigte sich ihrem Ende entgegen. Der Herzog betrat das Podium. Er sprach in gemessenem Tonfall, knappen Worten und im Gegensatz zu seinem Vorredner mit der Disziplin, nicht einmal ansatzweise vom Thema abzuschweifen.
Er war brillant, was Helena sicherlich gefallen würde. Seine Ideen waren umstritten – vor allem die These, dass die Evolution maßgeblich von natürlicher Selektion bestimmt wurde, wie von Mr Darwin vorgeschlagen, die den gemeinhin eher anerkannten Thesen des Neolamarckismus, der Orthogenese und der großen Sprünge widersprach. Trotzdem war seine Vortragsweise fast schon zu distanziert, als ob er lediglich die Gedanken eines Dritten wiedergab und nicht seine eigenen.
Seine Ausstrahlung jedoch ließ die Zuhörer an seinen Lippen hängen. Es war eine Anziehung, die aus mehr als seiner Überzeugungskraft und seinem guten Aussehen bestand. Vielleicht waren es gerade seine höfliche Arroganz, die unverkennbare Autorität in seiner Stimme oder die Kombination aus seinem altehrwürdigen Titel und seinen äußerst modernen Ansichten.
Am Ende des Vortrags stellten die Männer im Publikum, einige davon Mitglieder der Fakultäten von Harvard, andere von der Presse, eine Reihe Fragen.
Venetia beugte sich über Millie und reichte Helena ein Stück Papier. „Frag ihn.“
Die erste Frau zu sein, die ihm eine Frage stellte, würde beim Herzog bleibenden Eindruck hinterlassen.
Helena schaute die Frage an, die Venetia vorschlug: Was halten Sie von der theistischen Evolution, Sir? „Warum ich? Das solltest du selbst machen.“
Venetia schüttelte den Kopf. „Ich will nicht, dass er mich für zu vorwitzig hält.“
Doch ehe sie Helena weiter bedrängen konnte, erhob sich eine junge Amerikanerin aus dem Publikum.
„Euer Lordschaft.“
Venetia zuckte ob der falschen Anrede für den Herzog zusammen.
Einen Herzog sprach man nie direkt mit „Lord“ an, sondern immer mit „Euer Gnaden.“
„Ich habe Ihren Artikel im Harper’s Magazine mit großem Interesse gelesen“, fuhr die junge Dame fort. „In diesem Artikel provozieren Sie Ihre Leser mit der Ansicht, dass auch die menschliche Schönheit ein Resultat der natürlichen Selektion ist. Würde es Ihnen etwas ausmachen, dies näher auszuführen?“
„Keineswegs“, erwiderte Seine Gnaden. „Evolutionär betrachtet ist Schönheit nichts anderes als ein äußeres Zeichen, das Auskunft über die eigene Fähigkeit zur Fortpflanzung gibt. Unsere Auffassung von Schönheit beruht vor allem auf Symmetrie und Proportionen, die wiederum grundsätzlich auf strukturelle Gesundheit schließen lassen. Die Merkmale, die wir gemeinhin besonders attraktiv finden – klare Augen, gute Zähne, makellose Haut – stehen für Jugend, Vitalität und das Nichtvorhandensein von Krankheit. Ein Mann, der sich zu jungen, gesunden Frauen hingezogen fühlt, wird sich mit größerer Wahrscheinlichkeit fortpflanzen als ein anderer, der ältere, kränkliche bevorzugt. Daraus lässt sich schließen, dass unser Schönheitsideal ohne Zweifel von der erfolgreichen Selektion in den letzten Jahrtausenden beeinflusst wurde.“
„Wenn Sie nun also eine schöne Frau sehen, Sir, denken Sie dann nur daran, dass sie zur Fortpflanzung taugt?“
Venetia blieb der Mund offen stehen. Amerikaner waren wirklich erstaunlich dreist.
„Nein, ich wundere mich viel mehr darüber, welchen Wert wir der Schönheit beimessen – das fasziniert einen Wissenschaftler.“
„Inwiefern?“
„Wir werden von klein auf dazu erzogen, einander nach dem Charakter zu beurteilen. Und dennoch, wenn wir der Schönheit gegenüber stehen, hat das alles keine Bedeutung mehr. Schönheit wird zum Einzigen, was zählt. Das sagt mir, dass Mr Darwin absolut recht hatte. Wir stammen von Tieren ab. Es gibt mit Sicherheit tierische Instinkte – wie das Angezogensein von Schönheit –, die so urtümlich und grundlegend sind, dass sie unsere zivilisatorischen Werte aushebeln. Daher romantisieren wir die Schönheit aus der Verlegenheit heraus, dass wir ihr auch in unserer heutigen Zeit noch immer erliegen.“
Im Publikum erhob sich Gemurmel ob seiner unkonventionellen und sehr entschiedenen Ansichten.
„Bedeutet das, dass Sie Schönheit nicht genießen, Sir?“
„Ich genieße sie, aber eher so wie eine Zigarre – in dem Bewusstsein, dass sie mir zwar kurzweilig Freude bereitet, in Wahrheit jedoch nicht von Bedeutung ist und mir auf lange
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