Eine betoerende Schoenheit
Vorstellung immer wieder die Momente der Ächtung durch Lexington. Erlebte die schrecklichen Tage unmittelbar nach Tonys Tod noch einmal. Länger, als sie es für möglich gehalten hätte, war sie nur Zuschauerin in ihrem eigenen Kopf, wurde sie Zeugin der Ereignisse, als ob sie einer Fremden auf einem anderen Kontinent passierten, und wunderte sich darüber, dass sie so abwesend war.
Das erste Beben, das sie in ihrer Starre erschütterte, kam drei Tage, bevor sie nach New York aufbrechen wollten. Sie erwachte mitten in der Nacht mit pochendem Herzen und dem Drang, etwas zu zerstören. Nein, nicht etwas. Alles.
Als Helena und Millie erwachten, hatte sie bereits fertig gepackt, sich angezogen, und ihr Koffer war auf der Gepäckablage der von ihnen gemieteten Kutsche verzurrt. Wenn sie unbedingt schreien und Dinge zerschlagen musste, wollte sie das nicht vor den Augen ihrer Familie tun.
„Ich habe mich dazu entschlossen, nach New York voraus zu reisen und alles für eure Ankunft vorzubereiten“, sagte sie.
Helena und Millie schauten einander an. Heutzutage bedurfte es lediglich eines guten Reisehandbuchs und des Zugangs zu einem Telegrafenamt, um Reisevorbereitungen zu treffen. Es war nicht nötig, einen Kundschafter voraus ins durch und durch moderne New York zu schicken, besonders in ihrem Fall nicht, weil sie sich bereits um Reservierungen in einem der besten Hotels der Stadt gekümmert hatten, die zudem bereits bestätigt worden waren.
Helena setzte an: „Wir können mit dir …“
„Nein!“ Venetia zuckte selbst angesichts der Härte ihrer Ablehnung zusammen. Sie holte tief Luft. „Ich möchte allein reisen.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Millie zögernd.
„Absolut. Schaut doch nicht so betrübt – wir werden uns in nur zwei Tagen wieder sehen.“
Doch sie schauten betrübt, bestürzt und besorgt. Sie wollten sie in der Nähe behalten und sie beschützen. Vor einigen Verletzungen konnte einen allerdings auch die Liebe von Schwestern nicht bewahren, und einige Wunden leckte man besser in dunklen, einsamen Höhlen.
„Ich beeile mich lieber“, sagte sie. „Sonst verpasse ich noch meinen Zug.“
Venetia hatte eigentlich geglaubt, mit den Erinnerungen an Tony Frieden geschlossen zu haben. Sie hatte sich selbst belogen. Es hatte nie Frieden gegeben, sondern lediglich einen unsicheren Waffenstillstand, der darauf basierte, dass er sein letztes Wort gesprochen hatte und sie das Thema gezielt vermied.
Nun war selbst der Waffenstillstand beendet worden. Während der Zug gen Süden eilte und sie starr auf die noch mit Schnee und Eis bedeckte vorbeiziehende Landschaft blickte, wiederholte eine fassungslose Stimme in ihrem Kopf fortwährend dieselbe Frage: Warum hast du Lexington solche Dinge erzählt, Tony, warum?
Es ist ganz einfach, du Dummerchen. Er wollte, dass jemand glaubt, dass du für seinen Tod verantwortlich bist.
Warum sie dies so schmerzlich überraschte, wusste sie nicht. Vielleicht hatte sie im Laufe der Zeit zugelassen, dass sie die Vergangenheit beschönigte, dass sie glaubte, dass ihre Ehe doch nicht so erstickend gewesen war, dass sie nicht unglücklicher gewesen war als alle anderen auch und dass Tony sich nicht als derart niederträchtig erwiesen hatte.
Auf diese Weise erinnerte er sie über seinen Tod hinaus an ihr Elend, ihren Kummer und ihre Scham.
An die Wahrheit.
Als sie den Zug an der Grand Central Station verließ, dröhnte Venetia der Kopf. Beinahe wäre sie am Schild, das der Fahrer ihrer Freundin Lady Tremaine hochhielt, vorbeigelaufen. Lady Tremaine, ihr Ehemann und ihre zwei kleinen Töchter waren bereits nach England aufgebrochen, hatten Venetia jedoch ihr Automobil zur Verfügung gestellt.
Der Diener, der sich als Barnes vorstellte, geleitete Venetia nach draußen, dorthin, wo das Fahrzeug geparkt war. Abgesehen davon, dass vorne keine Pferde angeschirrt waren, glich das Automobil doch sehr einer Viktoria-Kutsche – der offene Wagen, der erhöhte Sitz des Fahrers im vorderen Bereich, selbst das Faltverdeck am hinteren Teil war vorhanden.
„Für Sie, Mrs Easterbrook, von Lady Tremaine Hüte für die Fahrt.“ Barnes deutete auf einen Stapel Hutschachteln auf dem Sitz.
„Sehr aufmerksam von ihr“, murmelte Venetia.
Die meisten Hüte mit Schleier hatten eher eine Verzierung aus Netzstoff, die nicht dazu gedacht war, etwas zu verhüllen, sondern vielmehr dazu, die Aufmerksamkeit auf das Gesicht zu lenken. Lady Tremaines Fahrhüte waren jedoch kein
Weitere Kostenlose Bücher