Eine betoerende Schoenheit
in der Tat, dass wir Männer in dieser Hinsicht blind sind.“
Es gab noch weitere Fragen. Venetia hörte sie nicht. Sie hörte auch die Antworten des Herzogs nicht, nur seine Stimme, diese unnahbare, klare, einnehmende Stimme.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann der Vortrag geendet hatte. Sie wusste nicht, wann der Herzog gegangen war oder wann der Rest des Publikums den Saal verlassen hatte.
Der Hörsaal war dunkel und leer, als sie sich erhob, höflich die Hand ihrer Schwester von ihrem Arm schob und hinausstolzierte.
„Ich kann immer noch nicht fassen, was passiert ist“, sagte Millie, als sie Venetia eine weitere Tasse heißen Tees reichte. Venetia hatte keine Ahnung, ob sie die letzte Tasse geleert hatte oder ob der Tee kalt geworden war.
Helena ging im Salon auf und ab und warf dabei einen langen, schmalen Schatten an die Wand. „Hier kommen eine ganze Menge Lügen und Lügner zusammen. Mr Easterbrooks Familie ist sicherlich ein verlogener Haufen, Mr Townsend war dazu ebenfalls absolut imstande. Und du selbst, Venetia, hast deinen Teil dazu beigetragen, dass sie damit durchkamen.“
Es stimmte. Venetia hatte selbst in nicht zu knappem Ausmaß gelogen. Manchmal galt es, Menschen zu beschützen, manchmal musste der äußere Schein gewahrt werden, und bisweilen musste sie ihren eigenen Stolz bewahren, damit sie weiterhin erhobenen Hauptes durch die Welt gehen konnte, während sie sich eigentlich lieber in einem dunklen Loch verkrochen hätte.
„Der Herzog ist wahrscheinlich kein Lügner“, fuhr Helena fort. „Aber er hat eine Reihe unbegründeter Gerüchte auf verwerflich leichtsinnige Art so vorgetragen, als ob es Fakten aus der Encyclopædia Britannica wären. Unverzeihlich. Wir können von Glück reden, dass die Amerikaner zwar vom Prince of Wales und dem Duke of Marlborough gehört haben mögen, Venetia jedoch nicht kennen und nicht in der Lage sein werden, aus seinen Worten auf ihre Identität zu schließen.“
„Dem Herrn sei Dank, auch für kleine Gnaden“, murmelte Millie.
Helena blieb vor Venetias Sessel stehen und beugte sich hinunter, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. „Räche dich, Venetia. Mach, dass er sich in dich verliebt, und gib ihm dann einen Korb.“
Finstere, drängende Gedanken waren Venetia durch den Kopf geschwirrt wie ein Schwarm Krähen um den Tower von London. Doch nun, da sie in die kalten Augen ihrer Schwester starrte, verlor die Vergangenheit an Bedeutung, und auch die Gedanken an Lexington verblassten.
Helena. Helena war eine Frau, die ihre Entscheidung mit fast angsteinflößender Schonlosigkeit traf.
Wenn Helena sich wirklich dazu entschlossen hatte, dass Andrew Martin all den Ärger wert war, dann waren die Würfel gefallen, hatte das Spiel begonnen, und sie hatte die Brücke überquert und abgerissen. Millie, Fitz und Venetia konnten versuchen, was sie wollten. Sie würden sie nicht umstimmen, mit keinem der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel.
Venetia konnte nur froh darüber sein, dass sie sich leer und betäubt fühlte. So war sie nicht in der Lage zu verzweifeln.
Fürs Erste.
KAPITEL 3
***
Als Venetia zehn Jahre alt war, war ein Zug in der Nähe ihres Zuhauses entgleist.
Ihr Vater hatte die Helfertruppe angeführt, die Passagiere aus dem Wrack barg. Venetia und ihre Geschwister durften nicht in die Nähe des Geschehens, da man befürchtete, dass es sie zu sehr ängstigen würde. Man ermutigte sie jedoch, sich um die Passagiere zu kümmern, vor allem um Kinder, die nur kleinere Verletzungen davon getragen hatten.
Es hatte einen Jungen in ihrem Alter gegeben, der keine sichtbaren Verletzungen aufwies. Als man ihm Sandwiches brachte, aß er sie. Wenn man ihm eine Tasse Tee reichte, trank er. Und wenn man ihm Fragen stellte, gab er halbwegs vernünftige Antworten. Nichtsdestotrotz wurde nach einer Weile deutlich, dass er nicht ganz da war, dass er gedanklich noch immer inmitten der Entgleisung gefangen war.
In den Tagen nach Lexingtons Vortrag verhielt sich Venetia auf ähnliche Weise der Realität entrückt. Weil sie darauf bestand, brachen sie planmäßig zu ihrer Reise nach Montreal auf.
Der Kälte trotzend – in Wahrheit die Kälte kaum spürend – besuchte sie die Basilika Nôtre-Dame, lächelte in Anbetracht der volkstümlich gekleideten Landbevölkerung, die sich an Markttagen auf dem Bonsecours drängten und bewunderte das Panorama der Stadt vom Aussichtsturm auf dem Mount Royal.
Die ganze Zeit über durchlebte sie in ihrer
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