Eine betoerende Schoenheit
Portier wirkte verlegen. Ohne sich umzudrehen und ohne vorher Notiz von ihr genommen zu haben, sagte Lexington:
„Die Dame möchte Ihre besten Zimmer.“
„Ah, selbstverständlich. Ihren Namen bitte, Ma’am.“
Sie schluckte und traf ihre Wahl willkürlich. „Baronin von Seidlitz-Hardenberg.“
„Wie viele Nächte möchten Sie bei uns bleiben, Ma’am?“
Sie hielt zwei Finger hoch. Der Hotelmitarbeiter schrieb etwas in seine Unterlagen. Venetia unterschrieb mit ihrem Decknamen im Gästebuch.
„Dies ist Ihr Schlüssel, Baronin. Und dies eine Karte des Central Park, den Sie unmittelbar vor unserer Tür finden. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Ein Bediensteter des Hotels geleitete sie zum Aufzug, der unverzüglich kam und seine Ankunft mit ein einem leisen Klingeln bekannt gab. Eine Harmonikatür faltete sich in die Mauer, die Innentür glitt beiseite.
„Guten Tag, Ma’am“, sagte der Fahrstuhlführer. „Guten Tag, Euer Gnaden.“
Wieder er. Sie neigte den Kopf verstohlen ein winziges bisschen zur Seite. Lexington stand ein kurzes Stück seitlich hinter ihr und wartete darauf, dass sie den Aufzug betrat. Beweg dich , befahl sie sich selbst. Beweg dich.
Ihre Füße trugen sie irgendwie vorwärts. Lexington folgte ihr. Er blickte in ihre Richtung, erkannte sie aber nicht. Stattdessen widmete er seine Aufmerksamkeit der goldenen Vertäfelung im Inneren des Aufzugs.
„Welcher Stock, Ma’am?“, fragte der Fahrstuhlführer.
„Fünfzehnter Stock“, antwortete sie auf Deutsch.
„Pardon, Ma’am?“
„Die Dame möchte in den fünfzehnten Stock“, sagte der Herzog.
„Ah, vielen Dank, Sir.“
Gemächlich, fast schon träge, bewegte sich der Aufzug nach oben.
Unter ihrem Schleier bekam Venetia viel zu wenig Luft. Dennoch traute sie sich aus Angst davor, ihre Aufregung zu verraten, nicht, tiefer einzuatmen.
Der Herzog hingegen war ganz entspannt. In seinem Gesicht spiegelte sich keinerlei Nervosität. Seine Haltung war aufrecht, aber nicht steif. Seine Hände waren locker über dem Knauf seines Gehstocks gefaltet.
Ihr Zorn loderte zu einem Feuersturm auf. Er dröhnte ihr in den Ohren. Ihre Fingerspitzen erhitzten sich in dem Wunsch, gewalttätig zu werden.
Wie konnte er es nur wagen? Wie konnte er nur wagen, sie dafür zu missbrauchen, seine dummen, frauenfeindlichen Ansichten zu veranschaulichen? Wie konnte er es wagen, ihren schwer errungenen Seelenfrieden zu zerstören? Und wie konnte er eine solch kühle Selbstgefälligkeit ausstrahlen, eine derart unerträgliche Zufriedenheit mit seinem eigenen Leben?
Als der Aufzug im fünfzehnten Stock anhielt, stürmte sie hinaus.
„Gnädige Frau.“
Sie brauchte einen Moment, um seine Stimme zu erkennen, die Deutsch sprach.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte seine Stimme nicht hören. Sie wollte seine Gegenwart nicht länger ertragen müssen. Alles, was sie wollte, war, dass er auf seiner nächsten Expedition in eine Grube voller Vipern fiel und den Rest seines Lebens an den schmerzhaften Auswirkungen ihres Gifts zu leiden hatte.
„Ihre Karte, Madame“, sagte er, noch immer auf Deutsch. „Sie haben sie im Aufzug vergessen.“
„Ich benötige sie nicht mehr“, antwortete sie knapp in der gleichen Sprache, ohne sich umzudrehen. „Behalten Sie sie.“
Christian warf die Karte der Baronin auf den Konsolentisch in seiner Suite. Er zog seinen Mantel aus, ließ ihn über die Lehne des einen Stuhls fallen und setzte sich auf den gegenüberstehenden.
Zehn Tage nach dem Vorfall war er noch immer über sein eigenes Verhalten verwundert. Was war nur über ihn gekommen? Als ein Mann, der von einem chronischen Leiden befallen war, hatte er sich längst damit arrangiert, hatte gelernt, damit zu leben. Er machte einfach weiter. Er sorgte dafür, dass er stets beschäftigt war. Und er sprach nie darüber.
Bis er sich doch einmal hinreißen ließ, auf entsetzliche Art, in aller Ausführlichkeit, in einem Hörsaal voller Fremder.
Er wollte nie wieder an diesen schlimmen Fehltritt denken, doch er kam in Gedanken nicht davon los, von diesem Bekenntnis – ein fast schon perverses Vergnügen daran, sich endlich, wenn auch auf äußerst verquere Weise, seine Besessenheit bezüglich Mrs Easterbrook einzugestehen, aber auch die bodenlose Demütigung unmittelbar danach, als er begriffen hatte, was er getan hatte.
Vielleicht war es ein strategischer Fehler gewesen, die Londoner Saison zu meiden und damit auch jegliche Gelegenheit,
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