Eine bezaubernde Erbin
hatte, gekommen war. Er setzte sich in sein Arbeitszimmer und öffnete das Schriftstück, aber er konnte keinen einzigen Satz davon verstehen. Nach einer Viertelstunde warf er den Bericht beiseite und durchquerte den Raum zum Kaminsims.
Alice lag an ihrem Platz. Er starrte sie an, als hielte sie die Antwort bereit, sie, die ihn durch die schwierigsten Monate seines Lebens begleitet hatte. Aber sie konnte ihm in ihrem ewigen Schlaf nicht helfen. Er seufzte, hob die gläserne Glocke, die sie bedeckte, und strich über ihren Rücken.
„Ist sie weich?“, fragte Millie hinter ihm.
Er erstarrte. Er traute sich fast nicht zu, sich umzudrehen. Aber er tat es. Sie stand da, wo er sie geliebt hatte. Hitze stieg in großen Wellen von seinen Sohlen bis zu seinem Nacken in ihm auf. „Du hast sie nie berührt?“
Millie schüttelte den Kopf. Natürlich, er hatte ihr Alice nie zum Halten gegeben, als sie noch lebte, und es war nicht Millies Art, sich diese Freiheit jetzt zu erlauben, nur weil sie tot war.
Er hob den aus Sockel aus Haselholz hoch, auf dem Alice ruhte, und reichte ihn ihr. „Hier.“
Sie trat einen Schritt vor. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, ihr Haar, das so ordentlich zurückgesteckt war, ihr schlanker und eleganter Hals, ihr schlichtes, weißes Nachmittagskleid aus Seide, auf welches kleine Rosen gedruckt waren und das schon seit Jahren Teil ihrer Garderobe war. Er hatte ihr nie erzählt, dass es eines seiner Lieblingskleider war.
Sie streckte ihre Finger zögerlich nach Alice aus – und zog sie überrascht zurück, als sie die Haselmaus berührten. Obwohl Alice so aussah, als müsste sie warm und weich sein, war sie doch eigentlich recht steif und ihr Körper hatte dieselbe Temperatur wie der Raum.
„Sie ist fort“, sagte er. „So tot wie die Pharaonen.“
Hätte er das doch nur eher verstanden. Was er in diesen ersten Momenten des Wiedersehens für Isabelle empfunden hatte, hatte so lebendig gewirkt, wie Alice es tat. Aber wie Alice waren auch diese Gefühle nur die konservierten Relikte einer vergangenen Zeit.
Er stülpte die Glasglocke wieder über Alice und stellte sie auf das Kaminsims zurück. „Und wie geht es dir, liebe Millie? Wolltest du mich sprechen?“
Er sah übermüdet aus. Sie wusste, dass er nicht gut schlief. In der Woche seit er aufgehört hatte, in der Nacht zu ihr zu kommen, verließ er jede Nacht sein eigenes Bett und ging in sein Arbeitszimmer, kehrte einige Zeit später zurück, nur um die Wanderung erneut aufzunehmen.
Auch sie hatte wachgelegen und in die Dunkelheit gestarrt. Aber anders als er hatte sie einen Entschluss gefasst.
Diese ausweglose Situation war nicht völlig – nicht einmal größtenteils – seine Schuld. Oder die von Mrs Englewood. Wenn jemand hätte anders handeln müssen, dann Millie. Manchmal schlichen sich Veränderungen unbemerkt ein. Es war entschuldbar, dass er nicht ganz erkannt hatte, wie er sich in jemand verliebte, den er als sehr gute Freundin betrachtete. Aber sie, sie hatte von Anfang an gewusst, dass sie mehr für ihn empfand.
Sie hätte schon vor Jahren etwas unternehmen sollen. Stattdessen war sie zu stolz und zu ängstlich gewesen, um ihn wissen zu lassen, was sie fühlte, aus Angst, sie würde sogar ihre Hoffnung verlieren, ihre Stütze in all diesen Jahren, sollte ihr Geständnis kein gutes Ende nehmen.
Aber das war vorbei. Sie wollte kein Feigling mehr sein. Sie wollte sich nicht mehr zurückhalten. Sie klammerte sich nicht mehr an eine Hoffnung, ohne einen ersten Schritt zu wagen.
„Verläuft alles so, wie du es geplant hattest?“, fragte sie.
Er sah sie an, ohne zu antworten.
„Ich werde für ein paar Tage nach Henley Park fahren“, sagte sie. „Und wenn ich zurückkomme, sollten wir uns ernsthaft darüber unterhalten, getrennte Wege zu gehen.“
Er wurde vor Schreck ganz blass. „Was meinst du?“, fragte er mit erhobener Stimme, was er sonst nie tat. „Unsere Wege trennen sich nicht, Millie. Wir …“
Sie legte ihre Hände auf seine Arme, die Wolle seiner Jacke war warm unter ihren Handflächen. „Hör mir zu, Fitz. Ganz genau. Denk an Mrs Englewoods Kinder. Wie wollt ihr ihnen euer Arrangement erklären? Was werden die anderen Leute sagen?“
Er öffnete seinen Mund, doch er konnte darauf nichts erwidern.
„Wenigstens sind es eheliche Kinder, ihre Eltern waren verheiratet. Aber was, wenn Mrs Englewood von dir ein Kind bekommt? Was wird aus diesen Kindern?“ Sie atmete tief ein. „Wenn du
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