Eine Billion Dollar
Fontanelli. Das war längst ein Thema für die Wirtschaftsredaktionen, nichts mehr, wozu man eine Studentin der Geschichte um ihre Meinung fragte. Aber das hieß nicht, dass alle Fragen, die Geschichte betreffend, schon geklärt gewesen wären.
Zum Beispiel das hier. Sie betrachtete die Fotokopien, die sie von den Kontenbüchern Giacomo Fontanellis und denen Michelangelo Vacchis gemacht hatte. Die Kontenbücher der Vacchis waren mustergültig. Jede Seite war so sauber geschrieben, dass sie gedruckt nicht besser hätte aussehen können. Die Kontenbücher Fontanellis dagegen waren ein wildes Durcheinander aus Buchungen in Florin, Zecchinen, Talern, Groschen und Pfennigen, teilweise fast nicht zu entziffern. Passagen waren gestrichen, mit Vermerken versehen, an den Seiten waren bisweilen Nebenrechnungen vermerkt, von denen unklar war, ob und wenn ja, was sie mit den eigentlichen Buchungen zu tun hatten. Auch der großzügigste Wirtschaftsprüfer hätte diesem Kaufmann den Hals umgedreht.
Vor lauter Verwunderung über die schlampige Buchführung Giacomo Fontanellis wäre ihr beinahe die seltsamste Tatsache entgangen.
Die Bücher der Vacchis begannen am ersten Februar 1525 mit einem Kontostand von dreihundert Florins und dem Vermerk, diese Summe von Giacomo Fontanelli zu treuen Händen erhalten zu haben. Ein Florin, der fiorino d’oro , hatte aus dreieinhalb Gramm Gold bestanden. Nach dem aktuellen Goldpreis der Londoner Börse entsprachen dreihundert Florins damit rund zehntausend US-Dollar – heute nicht viel, damals jedoch ein einigermaßen stattliches Vermögen.
Giacomo Fontanellis Bücher schlossen am fünften Januar 1525, mit mehreren Kontoständen in verschiedenen Währungen, ineinander umgerechnet und aufsummiert tatsächlich ungefähr dreihundert Florins, aber nicht wirklich nach Währungen getrennt: Es gab mehrere Summen in Zecchinen, eine ganze Reihe von Beträgen in Florin und so weiter. Und hinter jeder Zahl stand, schwer zu entziffern, ein Name. Sie hatte sich damals flüchtig gefragt, was das bedeuten mochte, den Gedanken aber nicht weiter verfolgt.
Jetzt stieg ein Verdacht in ihr auf, der so unglaublich war, dass ihr schier der Atem stockte.
Sie blätterte zurück, überflog die Spalten, holte einen Notizblock und Taschenrechner heran, versuchte die Berechnungen nachzuvollziehen. Konnte das wahr sein? Konnte es vor allem wahr sein, dass sie in fünfhundert Jahren die Erste war, die auf diese Idee gekommen war?
Die Beträge, mit denen Giacomo Fontanellis Bücher schlossen, waren keine Vermögenswerte, sondern Schulden, und die Namen hinter den Zahlen waren die Namen derer, denen er die genannten Beträge schuldete. Der florentinische Kaufmann hatte im Jahre 1525 Pleite gemacht.
30
Anfang August kapitulierten die Streikenden von HUGEMOVER. Monatelang hatten sie vor den Toren ausgeharrt, Transparente aufgestellt und Flugblätter verteilt, während in den Werkshallen die Produktion weitergegangen, ja sogar gesteigert worden war. Schließlich erklärten sie den Streik für beendet und unterwarfen sich den Arbeitsbedingungen, die in der Zwischenzeit noch einmal verschärft worden waren, erklärten sich einverstanden damit, dass die Löhne gekürzt wurden und sie dennoch im Bedarfsfall bis zu zwölf Stunden pro Tag arbeiten würden, auch an Wochenenden, ohne Zuschlag. »Ich fühle mich verraten«, sagte ein Dreher im Fernsehen, der 27 Jahre lang für HUGEMOVER gearbeitet hatte. »Ich fühle mich, als hätte meine Firma mir den Krieg erklärt.«
John fühlte einen Kloß im Hals, als er den Mann auf dem Videoschirm sprechen sah. Er sah McCaine an. »War es wirklich nötig, so hart zu sein? Nur wegen der paar Prozent Rendite mehr?«
McCaine warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Erstens sind Prozente niemals so unwichtig, dass man ›die paar‹ sagen dürfte. Das sollten Sie wissen, nachdem Sie Ihr Vermögen einem lausigen Durchschnittsprozentsatz von gerade mal vier Prozent verdanken. Zweitens«, sagte er und schob den Unterkiefer grimmig vor, »sind wir nicht angetreten, um die Menschen reich und glücklich zu machen. Dieser Mann da« – er deutete mit einem Kopfnicken auf den Bildschirm – »wird weiterhin mehr als genug zu essen haben und ein Dach über dem Kopf, etwas, was Millionen von Menschen auf diesem Planeten niemals haben werden. Wir sind da, um die Zukunft der Menschheit zu retten, und das wird, wenn überhaupt, ein steiniger Weg. Die Menschen werden verzichten müssen, und sie werden
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