Eine dunkle Geschichte (German Edition)
Gräfin hat ihre Wahl getroffen?« rief die alte Dame aus.
»Nein,« sagte Laurence, »wir haben es dem Zufall überlassen, und du warst sein Werkzeug.«
Sie erzählte die Vereinbarung vom Morgen. Der ältere Simeuse sah, wie das Gesicht seines Bruders immer bleicher ward, und er empfand von Augenblick zu Augenblick den Drang auszurufen: »Heirate du sie, ich will sterben!« Als der Nachtisch aufgetragen ward, hörten die Bewohner von Cinq-Cygne an das Saalfenster klopfen, das nach dem Garten ging. Der ältere Hauteserre stand auf, um zu öffnen, und ließ den Pfarrer ein, dessen Beinkleid beim Überklettern der Parkmauer am Spalier zerrissen war.
»Fliehen Sie!... Man kommt, Sie zu verhaften!«
»Warum?«
»Ich weiß es noch nicht, aber man geht gegen Sie vor.«
Diese Worte wurden mit allgemeinem Gelächter aufgenommen.
»Wir sind unschuldig«, riefen die Edelleute.
»Unschuldig oder schuldig,« sagte der Pfarrer, »steigen Sie zu Pferde und erreichen Sie die Grenze. Da werden Sie imstande sein, Ihre Unschuld zu beweisen. Eine Verurteilung in Abwesenheit läßt sich rückgängig machen; eine Verurteilung vor Gericht, unter dem Druck der Volksleidenschaften und durch Vorurteile begünstigt, ist unwiderruflich. Denken Sie an das Wort des Präsidenten de Harlay: ›Würde ich angeklagt, die Türme von Notre Dame fortgetragen zu haben, so würde ich zunächst fliehen‹.«
»Aber fliehen, heißt das nicht seine Schuld eingestehen?« fragte der Marquis von Simeuse.
»Flieht nicht!...« entschied Laurence.
»Stets erhabene Dummheiten«, sagte der Pfarrer verzweifelt. »Besäße ich Gottes Macht, ich entführte Sie. Aber wenn man mich hier in diesem Zustand findet, wird man diesen eigentümlichen Besuch gegen Sie und gegen mich ausbeuten. Ich mache mich auf dem gleichen Wege davon. Denken Sie nach! Noch haben Sie Zeit! Die Leute von der Justiz haben nicht an die Grenzmauer des Pfarrhofs gedacht, und Sie sind ringsum umstellt.«
Der Schall vieler Schritte und das Säbelklirren der Gendarmerie erfüllte den Hof und drang in den Speisesaal, als der arme Pfarrer kaum fort war. Er hatte mit seinen Ratschlägen nicht mehr ausgerichtet als der Marquis von Chargeboeuf mit den seinen.
»Unser gemeinsames Leben,« sagte der jüngere Simeuse schwermütig zu Laurence, »ist eine Ungeheuerlichkeit, und wir hegen eine ungeheuerliche Liebe. Diese Ungeheuerlichkeit hat dein Herz ergriffen. Vielleicht sind die Zwillinge, deren Geschichte uns überliefert wird, alle unglücklich gewesen, weil die Naturgesetze in ihnen umgestoßen werden. Sieh, wie beharrlich uns das Schicksal verfolgt. Nun ist dein Entschluß schicksalsvoll verzögert.«
Laurence war geistesabwesend. Wie ein Summen vernahm sie die für sie unheilvollen Worte, die der Direktor der Jury sprach:
»Im Namen des Kaisers und des Gesetzes verhafte« ich die Herren Paul Maria und Maria Paul von Simeuse, Adrien und Robert von Hauteserre. – Die Herren,« setzte er hinzu, indem er seinen Begleitern die Schmutzspuren auf den Kleidern der Verhafteten zeigte, »werden nicht leugnen, daß sie einen Teil dieses Tages zu Pferde verbracht haben.«
»Wessen klagen Sie sie an?« fragte Fräulein von Cinq-Cygne stolz.
»Verhaften Sie das Fräulein nicht?« fragte Giguet. »Ich lasse sie gegen Bürgschaft in Freiheit, bis das, was ihr zur Last gelegt wird, näher untersucht ist.«
Goulard bot seine Bürgschaft an und forderte der Gräfin nur ihr Ehrenwort ab, nicht zu entfliehen. Laurence schmetterte den früheren Bereiter des Hauses Simeuse durch einen hochmütigen Blick nieder, der ihr diesen Mann zum Todfeinde machte. Eine Träne quoll aus seinen Augen, eine jener Tränen der Wut, die eine Hölle von Schmerzen verraten. Die vier Edelleute tauschten einen furchtbaren Blick aus und blieben unbeweglich stehen. Herr und Frau von Hauteserre, die sich von den vier jungen Leuten und von Laurence hintergangen glaubten, saßen in einem Zustand unsäglicher Bestürzung auf ihren Lehnstühlen wie festgebannt. Diese Eltern, die ihre Kinder sich entrissen sahen, nachdem sie für sie alle Ängste ausgestanden und sie endlich zurückerhalten hatten, blickten vor sich hin, ohne zu sehen, und hörten, ohne zu hören.
»Muß ich Sie bitten, für mich zu bürgen, Herr von Hauteserre?« rief Laurence ihrem früheren Vormund zu, der durch diesen Ruf erwachte. Er war für ihn schrill und schneidend, wie die Posaune des jüngsten Gerichts.
Der Greis trocknete die Tränen, die ihm in die Augen
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