Eine Ehe in Briefen
teile ich Dir mit, über welche Adresse es schneller geht.
Alles, worüber ich klagte – Schwermut und Gleichgültigkeit –, ist vergangen; ich fühle, wie ich in einen skythischen Zustand gerate – alles ist interessant und neu. Ich verspüre keinerlei Lebensüberdruß, allein die stete Angst um Dich und daß Du mir fehlst, lassen mich die Tage zählen, wann endlich meine Einsamkeit und meine unvollständige Existenz ein Ende haben wird. 6 Wochen lang werde ich Tag um Tag aushalten, doch am 5. August möchte ich zu Hause sein, aber ich fürchte, dies zu denken und auszusprechen. Was jedoch wird mich dort erwarten? Werden alle wohlauf sein und dieselben, die ich verließ? Vor allem Du?
Neu und interessant ist so vieles: die Baschkiren, die nach Herodot riechen, die russischen Bauersleute, die Dörfer, die besonders schön sind wegen der Einfachheit und Freundlichkeit ihrer Bewohner. Ich habe ein Pferd für 60 Rubel gekauft, Stjopa und ich reiten viel. [...] Ich werde Dir viel zu erzählen haben und werde es Dir verübeln, wenn Du horchst, ob Mascha jammert, und nicht auf das, was ich erzähle. Wird es so sein? Und wann? Ich schieße Enten, von denen wir uns ernähren, gerade sind wir ausgeritten, um Trappen zu jagen, wie immer haben wir sie nur erschreckt, und zu den Wolfsjungen, von denen ein kleiner Baschkir gestern eines gefangen hat. Ich lese Griechisch, aber nur wenig. Habe gar keine Lust dazu. [...] Habe keine Lust, etwas zu tun, das mir abträglich ist: nicht angestrengt zu arbeiten noch zu rauchen (Stjopa gewöhnt es mir ab und gibt mir eine stets verringerte Zahl an Papirossa täglich, zur Zeit 12), noch Tee zu trinken, noch lange aufzubleiben.
[...]
In meinen Träumen bin ich Euch sehr nahe. In den erstenNächten träumte ich von Dir, dann von Serjosha. Das Portrait der Kinder zeige ich den Baschkiren und Baschkirinnen. [...]
Serjosha!
Schreibe mir, wie es Dir geht und was Du machst. Reitest Du und wirst Du oft von Mamá und Hannah gescholten oder loben sie Dich? Welche Zensur hast Du im Betragen? Ich küsse Dich.
Tanja!
Hier gibt es einen Knaben. Er ist 4 Jahre alt und wird Asis gerufen. Er ist dick und rund, trinkt Kumys und lacht immerfort. Stjopa hat ihn sehr gern und gibt ihm von seinen Karamelbonbons. Dieser Asis läuft nackt umher. Dann lebt bei uns noch ein Herr, der immer sehr hungrig ist, denn er hat außer Hammelfleisch nichts zu essen. Und dieser Herr sagt: Es wäre doch gut, Asis zu verspeisen, er ist so schön fett. Schreibe mir, welche Zensur Du im Betragen hast. Ich küsse Dich.
Iljuscha!
Bitte Serjosha, daß er Dir vorliest, was ich schreibe.
Heute ist ein kleiner Baschkire ausgeritten und hat drei Wolfsjunge gefunden. Er hatte keinerlei Furcht vor ihnen und ist vom Pferd gesprungen. Sie begannen, ihn zu beißen. Zwei ließ er laufen, eines aber hat er gefangen und hierher gebracht. Und nun wird vielleicht heute nacht die Wolfsmutter hierherkommen. Und wir werden auf sie schießen. Ich küsse Dich. Küsse beide Tantchen, Ljowuschka und Mascha von mir, grüße Hannah, Natalja Petrowna 117 und die Njanja, und laufe auch ins Dorf und sage Iwans 118 Kindern und seiner Frau, daß er wohlauf ist und sich mit den Baschkiren auf Tartarisch unterhält, wobei er bisweilen sehr laut schreit, sie aber haben gar keine Furcht vor ihm und lachen ihn aus.
Lebe wohl Liebste, ich küsse Dich.
Die Adresse bleibt die alte.
[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nikolajewitsch Tolstoj]
30. Juni [1871], des Nachts.
[Jasnaja Poljana]
Seit dem gestrigen Tage sind mir Flügel gewachsen. Gestern erhielt ich Dein Telegramm, lieber Ljowotschka, und seitdem bin ich froh, habe wieder Kraft und bin guten Mutes 119 . Liebster, Du wußtest, daß dies meine Seele stärkt, und tatsächlich ist dem so. Plötzlich habe ich wieder alle lieb, allein, da du wieder froh bist, lebendig und gesund, wie Du in Deinem Telegramm schreibst, was, wie ich hoffe, die Wahrheit ist. Werde weiter gesund und strebe nicht nach Hause, es ist Dir nicht allzu schwer dort und so halte auch ich es aus.
Gestern waren wir in der Kirche, und ich ließ alle Kinder die Kommunion empfangen. Alles ging gut, die Kinder waren artig, die Pferde liefen zügig, und wir kamen zu Beginn des Gottesdienstes an. Ljowuschka fiel, wie immer, besonders auf. Als die anderen Kinder den Wein tranken und die Hostie empfingen, hob er den Kopf und rief: ›Ljolja auch will bitte!‹ Als dann der Kelch zum Altar getragen wurde, rief er aus: ›Ljolja more 120
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